Wie ein 13-Jähriger Souvenir- Handel mit den Amis betrieb und die Ärzte übers Land kutschierte. Pit Bonfig schildert den Einmarsch der Amerikaner in seinen Heimatort Herrsching am Ammersee im Frühjahr 1945.

„Wir verteidigen die Schule bis zum letzten Schuss!“ Als sich Peter Bonfig dieser Anweisung seines Internatsleiters widersetzte, war er fast noch ein Kind. Die Amis standen schon in Nürnberg. Zu absurd erschienen dem 13-Jährigen die Parolen des linientreuen Rektors. Die Buben hatten zwar fast jeden Sonntag paramilitärische Geländespiele absolviert, doch zur Verteidigung ihres Landschulheims in Marquartstein gegen die anrückenden Truppen wären sie niemals in der Lage gewesen. Bonfig verließ das in einer alten, zugigen Raubritterburg im Süden des Chiemsees untergebrachte Internat und schlug sich – nur wenige Wochen vor Kriegsende – allein nach Herrsching am Ammersee durch.

Pit Bonfig wühlt in alten Fotos und Erinnerungen.
Fotos: Susanne Böllert

In seinem Heimatort erlebte der Junge 14 Tage später den Einmarsch der Amerikaner und dort lebt er, inzwischen 93-jährig und verwitwet, heute wieder. Die Erinnerungen des pensionierten Radiologen, der lange Zeit in München gewohnt hat, sind so lebendig, als seien seit dem 29. April 1945 nicht 80 Jahre vergangen, sondern nur einige Tage. In dem blassgelben Haus, das sein Vater 1961 für die Mutter direkt ans Ufer des Ammersees gebaut hat, berichtet der alte Herr aus jener Zeit zwischen Hoffen und Bangen. Bedächtig und mit heiserer Stimme. Und immer wieder huscht ein schelmisches Lächeln über das Gesicht des Herrschingers.

Was hat Sie bewogen, so kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner zu türmen?

Ich fasste den Beschluss gemeinsam mit meinem Zimmergenossen aus Wuppertal. Fritz hatte zuvor die Luftangriffe mit Phosphor-Bomben auf das Ruhrgebiet erlebt. Es hieß, dass wir in ein Hochlandlager in die Nähe des Kochelsees verlegt werden sollten. Wir hatten Angst, dass es sich um eine Einrichtung der Werwölfe handeln könnte, in der wir waffentauglich gemacht werden sollten. Bislang hatte ich Glück gehabt, dass ich noch nicht eingezogen worden war, ich war ja noch keine 14. Fritz, der sich den Arm gebrochen hatte, schob seinen Gips vor. Ich erfand ebenfalls eine Ausrede. Als wir mitteilten, dass wir, statt die Schule zu verteidigen, heimreisen würden, verunglimpfte uns der Rektor vor der ganzen Mannschaft und beschimpfte uns als Feiglinge und Volksverräter.

Wie genau sind Sie heimgekommen?

Ich fuhr mit dem Zug nach Übersee, von dort über Prien und Rosenheim nach München-Ost. Da musste ich um 12 Uhr mittags zu Fuß mit meinem Gepäck quer durch die Stadt zum Hauptbahnhof laufen. Glücklicherweise gab es gerade keinen Fliegerangriff auf München. Von Hauptbahnhof bin ich weiter mit der Bahn bis Herrsching.

Das war mit um die 2.000 Einwohnern recht klein und bäuerlich, die Begeisterung für den Nationalsozialismus indes groß. Auch weil die Nazis dem Ort 1937 mit der ersten von 14 Finanzhochschulen im Reich zu Vollbeschäftigung und landesweitem Prestige verholfen hatten. Einerseits bescherte die Bautätigkeit vielen Menschen einen Job, andererseits konnte man an den Schülern, die aus dem gesamten Reich an den Ammersee gekommen waren und ein Zimmer brauchten, gut verdienen. „Vor diesem Hintergrund sind die negativen Begleiterscheinungen des Nationalsozialismus im Ort nicht so sehr zum Tragen gekommen“, formuliert Friedrike Hellerer, Starnbergs Landkreisarchivarin, vorsichtig. Gemeint ist damit nicht zuletzt die Deportation von zwei Herrschinger Juden, die in Dachau, beziehungsweise Auschwitz ums Leben kommen sollten.

Heimlich konnte ein Anwohner fotografieren, wie die Amerikaner mit Panzern den Ort erreichten. Die meisten Kameras wurden kurz später konfisziert.
Fotos: Archiv Gemeinde Herrsching

In welche Atmosphäre sind Sie wenige Wochen vor der Kapitulation Hitler-Deutschlands in ihren Heimatort zurückgekehrt?

Die Menschen waren sehr kriegsmüde, vor allem die, die in den Wochen nach der Befreiung von der Front zurückkehren konnten. Viele hatten Angst, was nun mit ihnen passieren würde. Wir nicht so sehr. Mein Vater war Arzt und glaubte, dies könne uns schützen. Er hielt unsere Lage für relativ sicher, obwohl ihn ein Nachbar, ein strammer Nazi, 1938 in die Partei „eingetreten hatte“. Sich dagegen zu wehren, wäre natürlich ein Mordsskandal gewesen. In den Entnazifizierungsprozessen wurde mein Vater später als Mitläufer eingestuft. Ich selbst musste im April noch zwei Wochen in Herrsching zur Schule gehen. Allerdings waren wir fast jeden Tag um 9:30 Uhr wieder daheim. Wegen Fliegeralarm.

Hans Valentin Bonfig, Peters Vater, war im Ersten Weltkrieg als Unterfeldarzt an der Front stationiert gewesen. Nach der Machtergreifung der Nazis trat er dem NSKK, dem Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps, bei. Nicht selten hatten Männer, die der NS-Ideologie ablehnend gegenüberstanden, diese paramilitärische Unterorganisation der NSDAP gewählt, um sich nicht noch enger ans Regime binden zu müssen. „NSKK, das hieß bei uns ‚Nur Säufer, keine Kämpfer‘“, erinnert sich Bonfig acht Jahrzehnte später mit einem Grinsen. 

Anfang des Zweiten Weltkriegs wurde der Militärarzt Hans Bonfig damit betraut, Reservelazarette in Tutzing am Starnberger See sowie im Tegernseer Tal aufzubauen und zu leiten, bevor er an die Front geschickt wurde. Er glaubte erst, man bestelle ihn nach Afrika ab. Später stellte sich heraus, dass die Fliegenzelte für Finnland, das Land der vielen Seen und Mücken, gedacht waren. Er musste zwei Jahre lang in Rovaniemi ein in unterirdischen Bunkern im Wald eingerichtetes Lazarett führen. Es gab Guerillakriege zwischen den Finnen und den Russen, die sich aber in den Wäldern nicht auskannten und sich mit ihren Panzern verfuhren, während die Finnen wendig auf Langlaufski unterwegs waren. Das medizinische Personal musste einerseits zur Selbstverteidigung zur Waffe greifen, andererseits die Verletzten beider Seiten versorgen. Eine furchtbare Zeit.

Wo befand sich Ihr Vater, als Sie im April 1945 in Herrsching ankamen?

Da war er schon schwer krank heimgekehrt. Von der chronischen Lungenerkrankung, die er sich bei minus 30 Grad in Finnland zugezogen hatte, sollte er sich nie mehr ganz erholen. Ich kannte meinen Vater als jungen Mann, nun war er ein alter Greis. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er mühselig die Seestraße hinunterschwankte.

Stießen die Befreier beim Einmarsch in die Dörfer und Städte auf Widerstand, wurde nicht selten geschossen. Die Alliierten trugen Listen mit sich, auf denen die Namen der eifrigsten Nationalsozialisten vermerkt waren. Die ersten Verhaftungen erfolgten prompt. Als am 29. April die Amerikaner von Weilheim kommend Herrsching am Ammersee erreichten, hatte Bürgermeister Hans Bader am Südende des Ortes schon die weiße Fahne gehisst.

Die Franzosen okkupierten Herrsching für eine kurze Zeit. Hier zu sehen auf der Hannawies. Sie gingen mit den Herrschingern rüder um als die Amerikaner.
Fotos: Archiv Gemeinde Herrsching

Wie haben Sie diesen Tag in Erinnerung?

Ich war eins der ersten Kinder, die die Amis auf der Mühlfelder Straße begrüßten. Das waren alles junge Kerle, sehr freundlich zu uns Kindern. Sie schenkten uns Schokolade. Die Amerikaner waren anständiger als die Franzosen.

Diese besetzten, wie Friedrike Hellerer berichtet, für knapp drei Wochen Herrsching, bevor Bayern im Juli der amerikanischen Zone zugeschlagen wurde. Anita Menzel, die Gattin eines Herrschinger Gemeindebeamten, schrieb am 5. Mai 1945 über die Ankunft der Franzosen: „In fast jedem Haus wurde auf mehr oder weniger höfliche Art und Weise geplündert und Radios, Photoapparate, Lederkoffer, Schmuck, Uhren, Tennisschläger etc. mitgenommen. […] Für 500 Mann wurde im Dorf Quartier gemacht, so dass fast in jedem Haus jetzt ein Franzose ist. Bevorzugt sind Zimmer mit Badegelegenheit.“ Am 24. Mai vermerkte die Chronistin: „Heute morgen sind die Franzosen abgezogen. Es ist wesentlich ruhiger im Ort geworden. Die Amerikaner betonen immer wieder, dass sie überrascht sind, dass die Deutschen untereinander so schlecht sind und sich so denunzieren.“

Um die 200 Amerikaner und die zum Großteil polnische Wachmannschaft des Wehrmachtslazaretts, das man 1943 in der Finanzschule errichtet hatte, mussten dauerhaft  in Herrsching unterkommen. Was hat das für Ihre Familie bedeutet?

Bei uns im Wartezimmer hat für einige Zeit ein Zahnarzt gelebt, dessen Haus man beschlagnahmt hatte. Auch unser Haus war zum Teil beschlagnahmt. Einer der polnischen Unteroffiziere war Metzger. Wenn der in unserem Keller ein gestohlenes Schwein geschlachtet hat, musste ich im Hof mit dem Auto Vollgas geben, damit man die Schreie von dem Schwein nicht so hörte.

Apropos Auto. Sie waren 13!

Ja, aber ich musste die Vertretungsärzte, die unsere Praxis am Laufen hielten, während mein Vater am Sauerstoffgerät hing, über die Dörfer fahren. Die kannten sich nicht aus. Als ich 1948 meinen Führerschein gemacht habe, nannte mich der Fahrlehrer „Pit, der alte Schwarzfahrer“. Fahrstunden musste ich aber keine einzige absolvieren.

Peter Bonfig lebt seit einigen Jahren wieder in dem Haus mit Seeblick, das einst sein Vater erbaut hat. Berufstätig war Bonfig sein ganzes Leben als Radiologe in München.
Fotos: Susanne Böllert

Erst im Januar 1946 konnten Sie wieder die Schule besuchen – das Gymnasium Weilheim, das damals als einziges über Kohlen verfügte. Was haben Sie bis dahin getan?

Ich musste mich um unsere Hühner und die Ziege kümmern, aber vor allem war ich sehr engagiert bei den Amis und habe Handel mit ihnen getrieben. Die waren verrückt nach Souvenirs. Alles, was ein Hakenkreuz trug, war besonders begehrt. Manchmal liehen sie sich mein Radl. Es gab auch üble Typen, aber die meisten waren wirklich sehr kinderlieb. Ich sprach damals Englisch wie ein alter Hafenarbeiter. Ich redete auch oft mit einem schwarzen Soldaten. Der hat sich gefreut wie ein Kind, weil seine Kameraden nicht sehr nett zu ihm waren.

Wie ist es Ihrem Internat im Chiemgau ergangen?

Der Schule ist nichts passiert. Der Rektor, der so angegeben hatte, hat am Ende doch das weiße Fähnchen gehisst.

Verfolgen Sie heute die tagesaktuelle Politik?

Ja leider. Ich kann nicht fassen, dass die Leute so dumm sind, die AfD zu wählen, ohne zu verstehen, was die vorhaben. Raus aus dem Euro, raus aus der EU! Wenn es wirtschaftlich weiter bergab geht, bekommt diese Partei noch weiter Zulauf. Genauso ging es 1933 bei uns los. Mir tun die jungen Leute leid. Und ich selbst habe auch Angst. Ich will nicht noch einen Krieg erleben.