Mehr als 140 Jahre nach dem Abschuss des letzten bayerischen Bartgeiers wurden mittlerweile wieder zehn Exemplare im Nationalpark Berchtesgaden ausgewildert. Auf Bartgeier-Wanderung mit einem Experten.

17. Juni 2025. Eine Landstraße in der Nähe des niedersächsischen Oldenburgs.  Nach 1.600 ebenso nervenaufreibenden wie kalorienarmen Kilometern ist an diesem Tag für Vinzenz Schluss. Er kann einfach nicht mehr und lässt sich mitten auf der Straße nieder. Kraftlos und ausgehungert bleibt er sitzen, bis ihm jemand eine Decke über den Kopf wirft und ihn mitnimmt. Vinzenz ist zu diesem Zeitpunkt ein Jahr alt – und einer der berühmtesten Bartgeier Deutschlands.

Die zweite Berühmtheit in der Berchtesgadener-Bartgeier-Bande ist, Verzeihung, war Wally. Sie verstarb 2022 aufgrund eines Felssturzes in der Nähe der Zugspitze. Seit 2021 werden jährlich zwei Jungtiere im Nationalpark Berchtesgaden ausgewildert; immer verbunden mit der Hoffnung, dass diese Tiere mit Eintreten der Geschlechtsreife im Alter von rund sechs Jahren selbst ein Jungtier hervorbringen.

Bartgeier-Mädchen Luisa mit Projektleiter und unserem Wanderguide Toni Wegscheider am Tag der Auswilderung.
Fotos: Hansruedi Weyrich

Mittlerweile auch eine kleine Berühmtheit ist Toni Wegscheider vom Landesbund für Vogelschutz. Der 47-jährige Vogel-Experte kommt aus der Berchtesgadener Gegend und sagt selbst, er habe in der vierten Klasse schon ein Referat über den Bartgeier gehalten – als er sein Lieblingstier vorstellen sollte. Wegscheider stand dank Vinzenz‘ oben erwähntem Ausflug vielerlei Medien als Gesprächspartner zur Verfügung. Normalerweise versorgt er aber den Bartgeier-Nachwuchs mit Futter, beobachtet die Flugrouten „seiner“ Geier und gibt nicht nur sein schier endloses Wissen über die Vögel, sondern vor allem seine Begeisterung an Besucher:innen der kostenlosen Bartgeier-Wanderungen im Nationalpark Berchtesgaden weiter. 

Die Nationalpark-Infostelle mit der Auswilderungsnische im Hintergrund.
Fotos: Daniela Feigl

Die Wanderung beginnt am Klausbachhaus unweit des Hintersees bei Ramsau. Das Klausbachhaus ist nicht nur ein wunderschönes, altes Gebäude im Talschluss des Klausbachtals, es dient auch als Nationalpark-Infostelle. Dort, wo ein Adlerkopf im Garten steht, treffen wir uns – und gehen gleich in die Vollen. Toni packt sein Beobachtungsgerät aus – ein Fernrohr auf einem dreibeinigen Stativ – und richtet die Linse auf die Auswilderungsnische. Diese erscheint als bananenförmiger Schatten über der Baumlinie, die sich unterhalb des Knittelhorns in den Berchtesgadener Alpen befindet. Falls wir einen Geier sehen, sollen wir gleich Bescheid sagen. Ob da allerdings ein Geier oder ein Kolkrabe vorbei fliegt, können wir vorerst schlecht einordnen.

Wiedergutmachung leisten

Während der etwa einstündigen Wanderung, in deren Verlauf man rund 350 Höhenmeter auf etwa zweieinhalb Kilometern zurücklegt (schon ein wenig steil also), gibt es genügend Pausen zum Durchschnaufen und für jede Menge Bartgeier-Facts. Die bringt Wegscheider so leidenschaftlich vor, dass wirklich alle, die diese Wanderung machen, spätestens jetzt zu Bartgeier-Fans werden. Ansteckend dabei ist vor allem Tonis Überzeugung. Er weiß, dass er mit „seinem“ Projekt etwas Gutes bewirkt. „Wir machen hier quasi ein bisschen die historische Schuld wieder gut“, sagt er. Da oben, und er zeigt auf die Bergkämme, die uns umgeben, sei 1879 der letzte bayerische Bartgeier geschossen worden. Zwei Kilometer weiter werden sie wieder angesiedelt. 

Fotos: Hansruedi Weyrich

Die ursprüngliche Geschichte der Bartgeier in Bayern endete also vor mehr als 140 Jahren. Damals hieß es in den Sagen und Geschichten, die das Land rund um die Berge geprägt haben, der fälschlicherweise auch als „Lämmergeier“ bezeichnete Vogel würde Lämmer und Gämsen fressen – und seinen Speiseplan ab und an auch um ein Menschenkind erweitern. Dabei frisst der Bartgeier (lateinischer Name übrigens Gypaetus barbatus) keinerlei lebendige Wesen. Er ist ein typischer Aasvernichter. Und nicht nur das: Die Bartgeier-Ernährungspyramide baut quasi auf Knochen auf. Rund 80 Prozent der Nahrung besteht aus Knochen, das Mark ist höchst energiereich. Natürlich wird auch das Fleisch nicht verachtet, das diese Knochen umgibt. Dementsprechend füttern die Biolog:innen auch den Bartgeier-Nachwuchs in der Nische unterhalb des 2015 Meter hohen Knittelhorns: Sie legen aus rund zehn Metern Entfernung „totes Fleisch“ in der Nähe des Horstes ab. Wichtig: Die Geier dürfen die Vogelschützer:innen nicht als Nahrungsquelle identifizieren. Sie müssen sich als Aasfresser ins Ökosystem integrieren, denn als solche leisten sie einen wichtigen Beitrag zum Erhalt des natürlichen Gleichgewichts.

Toni Wegscheider und David Schuhwerk bringen die zwei Bartgeier-Mädchen zur Auswilderungsnische.
Fotos: Hansruedi Weyrich

Bartgeier gehören mit fast drei Metern Flügelspannweite zu den größten Vögeln Europas. Ausgewachsen bringen sie bis zu sieben Kilogramm auf die Waage. Und wenn Toni Wegscheider von der „Bartgeier-Partnerbörse“erzählt, die sich schon lange vor der Auswilderung abspielt, werden alle Wandernden hellhörig. Denn jedes Tier hat einen ganz eigenen Charakter. Unser anfänglicher Vinzenz zum Beispiel hat offensichtlich einen wirklich stark ausgeprägten Wandertrieb. Der klingt im Normalfall mit der Geschlechtsreife der Tiere ab, wenn sie sich in einem Gebiet niederlassen. Generell gilt Vinzenz aber schon als wagemutig und kühn, wohingegen sich Wiggerl, sein Auswilderungskumpel, eher zurückhaltend verhält. „Es gab mal ein legendär bösartiges Weibchen“, erzählt Wegscheider während der letzten Pause vor dem Infostand. Dieses Weibchen hätte alle Männchen, die sich ihr näherten, ausgiebig verprügelt und somit alle Bewerber um eine Brutpartnerschaft vertrieben. Schließlich sei sie für immer alleine und kinderlos geblieben. Aber wer weiß, vielleicht wollte sie auch genau das? Die Beziehungsmodelle von Bartgeiern erweisen sich teils als sehr unkonventionell. Mitunter finden sich sogar homosexuelle Dreierkonstellationen oder richtige „Kommunen“ aus zwei Pärchen, wo aber nur ein Weibchen die Eier legt. Um sicherzustellen, dass sich Partnerschaften bilden können und charakterlich alles so gut wie möglich funktioniert, beschäftigt der Landesbund für Vogelschutz einen Zucht-Spezialisten, der sich alle Charaktere anschaut und seit Jahren (und noch viele Jahre länger) Bartgeier weltweit genau beobachtet. 

Video von der diesjährigen Bartgeier-Auswilderung:

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Um den Gen-Pool der Bartgeier möglichst zu vermischen, werden Jungtiere aus Zoos unter anderem  in Tschechien (Generl), Finnland (Wiggerl) oder Spanien (Dagmar) nach Berchtesgaden gebracht. Der natürliche Lebensraum der Vögel erstreckt sich entsprechend nicht nur über die Alpen, sondern die Pyrenäen im Westen und bis in den Himalaya im Osten der Erde. 

Zurück zu den Eiern. Ein Bartgeier-Weibchen legt immer zwei davon im Abstand von einigen Tagen. Allerdings ist das zweite Ei meist nur als „Sicherheits-Ei“ zu verstehen, falls das erste Küken nicht überlebt, krank ist, zu schwach oder das Ei nicht befruchtet wurde. Das soll sicherstellen, dass es bei den Geiern Nachwuchs gibt, allerdings bedeutet das auch, dass im Falle von zwei schlüpfenden Küken das zweite dem ersten auf jeden Fall zum Opfer fällt. Klassischer Geschwistermord also. 

Am Bartgeier-Infostand gibt es viel zu sehen und zu lernen. Zum Beispiel kann man sich die riesige Bartgeier-Feder anschauen oder die Tiere mit etwas Glück direkt durch das Spektiv beobachten.
Fotos: Daniela Feigl

Am Tag der Auswilderung werden die jungen Bartgeier im Alter von rund 90 Tagen in Transportboxen von den Vogelkundler:innen in die Nische gebracht. Im vom LBV gestalteten Horst bekommen die Vögel einen GPS-Tracker, der nicht nur ihre Bewegungen bis zu fünf Jahre lang begleitet. Auch Vitalitätszeichen kann der Tracker messen, Beschleunigung, Temperatur und mehr. Außerdem bekommen sie individuelle Ringe an die Füße sowie vorab ein einzigartiges Muster in die Federn gebleicht, anhand dessen man sie dann in der Luft identifizieren kann. Vielleicht vom Bartgeier-Infostand aus? Gegenüber der Auswilderungs-Nische befindet sich auf rund 1.100 Metern besagter Infostand, an dem es viel zu entdecken gibt, auch für die Kleinen. Zum Beispiel kann man hier an Handtrainern ausprobieren, mit welcher Klauenkraft die Vögel zupacken können. Man sieht, wie groß die „Futterstücke“ sind, die sie locker schlucken können. Es gibt ein Glas Bartgeier-Guano (also Kot), der pulverig ist, weil er hauptsächlich aus Calcium vom Knochenverzehr stammt. Und man sieht auch eine riesige Feder, die der Mauser zum Opfer fiel. Anhand der Musterung läst sich das Alter des Vogels erkennen, fast wie bei den Jahresringen im Baumstamm.

Fotos: Daniela Feigl

Allerdings gibt es wie bei vielen guten Dingen ein „aber“. Hier: Die Projektfinanzierung läuft aus. Ende des Jahres 2025 ist Schluss mit dem Geld. Der Landesbund für Vogelschutz und der Nationalpark Berchtesgaden, die dieses Projekt in Zusammenarbeit realisiert haben, sind auf Spendengelder angewiesen. Wegscheider, der als Projektleiter nicht nur vor dem Start eine sechs Monate dauernde Machbarkeitsstudie erstellt hat, sondern täglich auch mehrere Anträge zur (Weiter-)Finanzierung  verfasst, wünscht sich sehr, dass dieses Projekt weitergehen kann. Alleine schon um zu sehen, ob einer „seiner“ Geier sich niederlässt, eine Brut eröffnet oder einfach, wohin es sie verschlägt. Die Tour, für die Vinzenz in die Niederlande geflogen ist, war für ihn eine recht emotionale Sache, gesteht er. Lieber wäre ihm, die Vögel würden sich da aufhalten, wo sie hingehören. In den Bergen, wo man sie von Ende Mai bis Oktober bei einer kostenlosen Wanderung sehen kann.

Helfen Sie den Bartgeiern!


Sie möchten dem Landesbund für Vogelschutz in Sachen Bartgeier etwas zurückgeben oder sich für die Wiederansiedelung der Vögel aktiv einsetzen? Was das Projekt gerade am meisten braucht ist Geld. Infos zum Projekt finden Sie unter bartgeier.lbv.de.

Fotos: P. Rodriguez