Wie sich eine fette Katze in Münchens ehrwürdigem Konzert- und Kulturzentrum breit macht: Die Zwischennutzung des Gasteig lockt Kunstschaffende aller Couleur.

„Ich war auf der Suche nach neuen Inspirationen, nach Austausch und Interaktion zwischen Künstlern und Künsten“, erklärt Juan Tardivo. Sechs Jahre hatte der Argentinier in Bologna gelebt und gearbeitet, bevor er 2021 nach München zog – in der Hoffnung, sich mit seiner Kunst gut ins Monaco des Nordens integrieren zu können. Auf der Wand hinter dem schlanken Mann mit der asymmetrischen Frisur und dem graumelierten Fünf-Tage-Bart explodieren die Farben, während er erzählt. Ozeanblau, Nacht- schwarz, Türkis, knalliges Gelb und Rot. Rot in all seinen Facetten. Das großformatige Gemälde, auf dem vier Körper aus der Farbe geboren zu werden scheinen, gehört zur Serie „God fall down“. Inspiriert ist sie noch von den Darbietungen einer italienischen Tanzkompanie aus seiner Zeit in Bologna, ausstellen möchte der Maler sie im Frühjahr in München.

Der Künstler Juan Tardivo vor seinen Werken im Münchner Gasteig
Juan Tardivo hatte sich von München menschliche und künstlerische Inspiration gewünscht. Gefunden hat er sie im Gasteig.
Fotos: Andreas Jacob

Doch bevor es so weit ist, müssen noch viele Leinwände mit den kräftigen Ölfarben zum Leben erweckt werden, die Tardivo für seine Bilder zwischen Lust und Schmerz, zwischen Rubens‘ „Höllensturz der Verdammten“ und seiner eigenen lebensbejahenderen Version eines „Erdensturzes“ verwendet. Die Schlachten mit Pinsel und Palette ficht Juan in Raum Nummer 3.137 aus.

Wer ist die Fat Cat? Und was macht sie im Gasteig?

Auf dem Weg zum Fahrstuhl spricht Christian Kiesler in höchsten Tönen von dem 37-Jährigen: „Juan bringt sich immer ein, wenn es etwas zu tun gibt. Was haben wir schon Treppen durchs Haus geschleppt! Aber auch zu den Netzwerktreffen der Mieter, die Marie organisiert, kommt er immer.“ Christian, in der Veranstaltungsszene besser bekannt als Kiesi, ist Betriebsleiter der Fat Cat gGmbH. Marie Scholz ist Schauspielerin auf dem Sprung von der Bühne vor die Kamera und die erste Mitarbeiterin von Fat Cat. Beide bilden das Kernteam der gemeinnützigen GmbH zur Wiederbelebung des sanierungsbedürftigen Münchner Gasteigs.

Seit 1. März, Tag Eins der Zwischennutzung des nach eigenen Angaben größten Kulturzentrums Europas, haben sie sich der Mammutaufgabe gestellt, adäquate Untermieter für 150 Räume zu finden. „Es hat wirklich nicht an Interessenten gemangelt“, sagt Kiesi, der sein Talent als Booker jahrelang dem Münchner Feierwerk hat zugutekommen lassen, „ein Riesengebäude wie der Gasteig ist für ein so teures Pflaster wie München absolut notwendig. Hier herrscht ein derartiger Platzmangel, dass kreative Arbeit kaum stattfinden kann.“ In Windeseile hatte sich in der Kunst- und Kulturszene die frohe Botschaft herumgesprochen, dass der rote Backstein-Bunker, der wie eine fette Katze (der aufmerksame Leser erkennt nun, wie die Namensgebung der Zwischennutzungs-GmbH verlaufen sein muss) über der Isar und über München thront und bislang hochnäsig, wie es sich für eine Katze gehört, nur der Hochkultur Einlass gewährt hat, nun auch für alternativere Kreative seine Türen öffnen würde.

Upgrade für „Fahrlænd“

Daniel Fahrländer, Sänger, Musiker und Elektro-Pop-Produzent, sitzt in seinem Studio in der Fat Cat
Daniel Fahrländer würde gern sieben Tage die Woche in seinem schallisolierten Studio arbeiten – und am liebsten „noch sehr, sehr lange“.
Fotos: Andreas Jacob

Kiesi klopft an die mit der Nummer 3.113. Der Raum ist schallisoliert und -optimiert, wie alle anderen auch, in denen einst die Münchner Musikhochschüler probten. Hier hat sich Sänger, Musiker und Elektro-Pop-Produzent Daniel Fahrländer in einem Mix aus Wohnzimmer und Soundstudio eingerichtet. „Ich bin wahnsinnig glücklich, hier sein zu können“, sagt der 31-Jährige, der am liebsten jeden Tag die Anreise mit Rad, U- und S-Bahn aus Laim nach Haidhausen auf sich nehmen würde. An zwei Tagen müsse er aber als Informatiker Geld verdienen, um seine „brotlose Kunst“ zu finanzieren, sagt der rotblonde Mann mit den tätowierten Armen und lacht fröhlich. Von acht auf 24 Quadratmeter habe er sich verbessert. Weitere (Probe-) Räume teilt er sich mit den Sportfreunden Stiller und dem Elektro-Pop-Duo Umme Block.

Aber nicht nur der ganze Platz sei ein Wahnsinns-Upgrade, sondern auch die Inspiration durch die vielen, neuen Nachbarn. Spartenübergreifend. Mit Anna Fuchs, die ihr Atelier im zweiten Stock bezogen hat, ist Daniel bereits eine spontane Kooperation eingegangen. Inspiriert von der Single „Weinen“ seines Solo-Projektes Fahrlaend hat die Malerin ein Bild entworfen, das sie versteigert und den Erlös an Menschen mit seelischen Problemen gespendet haben. „Ich hoffe, ich bin noch sehr, sehr lange hier“, sagt der Sänger in Hausschuhen.

<

Bewerbungsflut um Räume im Gasteig

Mehr als 800 Bewerbungen von Künstler*innen aller Couleur, aber auch von sozialen Trägern hätten er und Marie gesichtet, fährt Kiesi fort, immer darum bemüht, eine bunte, diverse und sich gegenseitig befruchtende Mieterschaft zusammenzuwürfeln. (Was, siehe Anna und Daniel, zu klappen scheint.) Viele Musiker, etablierte wie Fiva und Nick McCarthy, aber auch die aus 12- und 13-Jährigen bestehenden Boys of Kings, sowie Bildende und Darstellende Künstler, Kreative aus Tanz, Theater und Film haben Einzug gehalten in das 90.000 Quadratmeter große Gebäude, das sich eigentlich schon für einen langen Winterschlaf zusammengerollt hatte und gemütlich schnurrend unter Spinnweben und Staub der Bürokratie verschwinden wollte.

Das Schicksal, das nach dem Auszug von Musikhochschule und Stadtbibliothek sowie dem Umzug der Philharmoniker ins Interimsquartier Gasteig HP8 beinah das gesamte Haus ereilt hätte, ist an manchen Stellen noch erkennbar. So ist der Zugang zum großen Konzertsaal verrammelt und verschlossen, die Scheiben sind blind und schmutzig und auch die Rolltreppe im Haupttrakt des Hauses steht still. Demnächst soll eine provisorische Treppe über sie hinweg aus dem Erdgeschoss in den ersten Stock führen. Derzeit werkeln im Foyer Arbeiter am Tagescafé, das Amel Arifovic und Fatih Eren in Kürze eröffnen wollen. Wer ihren Brotzeitladen und Lieferservice „Pausenhof“ am Leuchtenbergring kennt, kann sich schon mal auf „gesunde Bowls und Sandwiches zu gesunden Preisen“ freuen.

Auch die Gasteig GmbH profitiert von der „Katze“

„Provisorium. Das beschreibt die Situation im Gasteig am besten“, sagt Kiesi, während er und Marie weiter durch schier unendliche Gänge und Flure führen. „Ein Provisorium, von dem aber nicht nur die Kunstschaffenden profitieren, sondern auch unsere Vermieterin, die Gasteig GmbH, an die ein Teil unserer Mieteinnahmen fließt. Und natürlich auch das Gebäude an sich, das ja weiter instand gehalten werden muss.“ Elektrik, Hausmeisterei, alle technischen Gewerke – das kostete natürlich auch dann Geld, stünde das Haus leer. Fat Cat selbst mit Barbara Bergau als Geschäftsführender Gesellschafterin und den Mitgesellschaftern Nepomuk Scheßl, Till Hofmann vom Lustspielhaus und Michi Kern, seines Zeichens König des Münchner Nachtlebens, generiert keinen Gewinn. „Schön wär’s“, sagt Kiesi grinsend und kratzt sich die Stirn unter der Wollmütze. Doch seien die Fat-Cat-Mieten ab 150 Euro zum einen deutlich geringer als der Münchner Marktpreis, zum anderen müssten inzwischen sechs Mitarbeiter, der Security- und der Putzdienst bezahlt werden.

Noch ein cooles Kulturzentrum: das Affekt in Rosenheim

Der Ursprung des Provisoriums

Doch ist die eigentliche Frage, wieso der „Kulturtempel“ Gasteig überhaupt zu diesem geschätzten Provisorium werden konnte, noch nicht beantwortet. Nun: Schuld daran hat einerseits der Investitionsstau, der etliche Bau- und Modernisierungsvorhaben in München lahmlegt, andererseits waren auch die politischen Differenzen im Stadtrat über das Wie und Wieviel der dringend notwendigen Sanierung nicht förderlich. Anfang des Jahres traf dann die Entscheider die Erkenntnis, dass auch das präferierte Investorenmodell gescheitert war. Es hatte sich ein Jahr lang kein geeignetes Unternehmen finden lassen, das die Modernisierung des 35 Jahre alten Konzert- und Kulturzentrums für gedeckelte 450 Millionen stemmen konnte – oder wollte. Angesichts des Zustands des Backsteinbaus kein Wunder: So haben nicht nur die meisten der über 200 technischen Anlagen ihre Lebensdauer überschritten, auch beim Brandschutz liegt einiges im Argen und die Akustik im Konzertsaal der Philharmoniker habe niemals internationalen Standards entsprochen, wie Kritiker von Beginn an monierten.

„Jeder Raum ist wie eine Wundertüte“

Gar nichts zu meckern hat dagegen Aloun Phetnoi-Ferznadi, der kürzlich im Erdgeschoss die Dependance seines Breakdance-Studios Step2diz eröffnet hat. „Hier können wir laut sein. Die Nachbarn finden die Musik geil. Hier stören wir, anders als in der Sedanstraße, wo unser Hauptsitz ist, niemanden, wenn wir unsere Kurse in Urban HipHop, Breakdance, Afro Dance oder Voguing geben“, schwärmt der 44-Jährige. Mehr als einmal habe das offene Fenster neue Kundschaft generiert. Dass der Münchner mit den thailändisch-vietnamesischen Wurzeln, der seine Liebe zu allen vier Säulen des HipHop – Breakdance, Graffiti, Rap und DJing – bereits als Schüler entdeckte, einmal selbst 140 Quadratmeter im Gasteig beziehen würde, hätte er nie gedacht. „Wir waren Straßenkünstler, haben unsere Moves auf dem Marienplatz gemacht. Das hier“, Aloun beschreibt mit den Armen eine große Geste, „war für klassische Tänzer, Jazz, Ballett reserviert. Jetzt haben wir’s geschafft.“

Marie Scholz, die in dem großen Haus anfangs ziemlich allein durch die Gänge geisterte, sagt: „Jetzt zu sehen, was die Mieter draus gemacht haben, ist alle Arbeit wert. Jeder Raum ist wie eine Wundertüte.“

Ein Breakdancer, wie er auf einem Arm einen Handstand macht mit angewinkelten Beinen.
Aloun Phetnoi-Ferznadi beim Breakdance.
Fotos: Andreas Jacob

Die nächste Wundertüte öffnen werden die zwischennutzungserprobten Gastronomen Michael Zacharski, Maurice Löw und Tom Nemeth, die sich so wie Step2diz eine Pole Position sichern konnten. Der Umbau des Restaurants Gast ist so gut wie vollendet. Im neuen Live/Evil soll es bezahlbare Drinks und jede Menge Live-Musik geben, mittwochs Jazz, donnerstags Jam-Sessions und samstags eher elektronisch. Auch das Atomic Café soll hier einziehen. Ältere Partygänger erinnern sich. Auf Zeit, versteht sich. Wie alles, was hier im Gasteig gerade erblüht, sich gegenseitig befruchtet und inspiriert.

Übrigens: An den für Anfang 2025 anvisierten Sanierungsbeginn glaubt dabei eigentlich keiner. 2030 vielleicht, raunt es hoffnungsvoll durch die Gasteig-Gänge. Die dicke Katze schnurrt derweil. Ihr Vertrag ist erst einmal bis Ende 2024 verlängert worden.

Michael Mittermeier auf der Bühne seines Comedy Clubs
Auch Michael Mittermeier hat im Gasteig Unterschlupf gefunden – mit seinem Lucky Punch Comedy Club.
Fotos: Christian Böhm
Google Maps

Mit dem Laden der Karte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Google.
Mehr erfahren

Karte laden