Stellen Sie sich vor, Fremde würden Ihnen vorschreiben wollen, wen Sie zu lieben haben. Unerhört, nicht wahr? Für eine ganze Reihe Menschen ist das der Alltag – zwei davon haben wir gesprochen. 

Damit Sie es gleich wissen: Diese Geschichte handelt von zwei Menschen, die ich persönlich kenne und schätze. Ich empfinde ihnen gegenüber Wohlwollen, Sympathie und enormen Respekt. Sie dürfen also kein neutrales Porträt erwarten, keinen streng journalistischen Regeln folgenden Text oder gar einen wissenschaftlich elaborierten Essay (obwohl das Kernthema durchaus einen verdiente). Stattdessen möchte ich Sie einladen, mir quasi beim lauten Denken zuzuhören. Haben Sie teil an den Gedanken, die ich mir zum Leben dieser beiden Menschen mache; verzweifeln Sie mit mir darüber, wie aggressiv Teile der Gesellschaft auf achtbare Mitmenschen reagieren. Vielleicht können Sie am Ende meine Bewunderung für die zwei nachvollziehen; Bewunderung dafür, wie tapfer, selbstlos und scheinbar unermüdlich sie ihren Weg gehen und ihre (aus meiner Sicht hehren) Ziele verfolgen. 

Sie, eine 18-jährige Frau aus Rimsting, dem kleinen Luftkurort am Nordwest-Ufer des Chiemsees. Anna Gmeiner besucht das Gymnasium im benachbarten Prien und steckt aktuell, Ende April 2024, mitten im Lernstress für die bevorstehenden Abitur-Prüfungen. Doch sie wirkt, als käme es auf eine Stress-Quelle mehr oder weniger gar nicht mehr an. Ein gar nicht mal so kleines Grundrauschen strömt ja ständig durch dieses aufgeweckte Köpfchen, auf dem lange, kupferfarbene Haare glänzen und worin Aufgaben, Projekte und Termine um Beachtung wetteifern. Anna engagiert sich auf vielerlei Weise für – hm, ich würde sagen: für eine gerechtere Gesellschaft.

Gründerin von LGBTQ+ Rosenheim e.V.

Dazu gehört zum Beispiel, den nachfolgenden Generationen eine (zumindest noch halbwegs) intakte Lebensgrundlage zu hinterlassen. Ihr Aktivismus dreht sich aber auch um das gesellschaftliche Miteinander. Um das positiver zu gestalten, ist die Gymnasiastin vor gut zwei Jahren politisch aktiv geworden. In dem Zuge hat sie die Gründung eines gemeinnützigen Vereins initiiert, der marginalisierten Personen eine Heimstatt bieten soll. Sie hält Vorträge, organisiert Info-Veranstaltungen und Demos und klärt nicht zuletzt in den sozialen Medien über Themen auf, die (nicht nur) ihre Generation sowie eine ganz bestimmte „Community“ tagtäglich beschäftigen. Sie werden noch verstehen, warum ich das nicht sofort konkreter ausführe.

Kommen wir zu ihm, dem„gstandenen Mannsbild“, mit seinen fast zwei Metern Körpergröße und der gym-gestählten Figur. 1968 in Rosenheim geboren, wächst Markus Blaschka im Nachbarort Raubling auf. Wohlbehütet, wie er sagt, aber alles andere als frei von Konflikten. Wenn damals, in den 1970er und 1980er Jahren der Rauch aus den riesigen Schloten der Papier- und Kartonagenfabrik PWA stieg, glotzten die Klassenkamerad:innen ebenso unverhohlen wie grimmig hinüber zu ihm, dem vermeintlich verwöhnten Sohn des Unternehmensvorstands. Die Begriffe kannte er als junger Bub nicht, wohl aber die schmerzvolle Macht des Mobbings und Bullyings.

Queerer Coach für Führungskräfte

Viel zu früh, noch als Teenager, verliert er in kurzer Abfolge Vater und Mutter, scheint aber eine natürliche Autorität geerbt zu haben. Der promovierte Informatiker coacht heute Führungskräfte und Unternehmen in Bereichen wie Agilität, Leadership, Projektmanagement oder Persönlichkeitsentwicklung. (Selbstverständlich nach fundierten Ausbildungen, die über die eher spärlich gesäten Einblicke ins väterliche Geschäft weit hinausgehen.) Auch Markus trägt einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn in sich, auch er setzt sich ehrenamtlich für Schwächere ein. Vielleicht will man umso mehr zurückgeben, je schwerer man es selbst einst hatte? 

Mit Herzlichkeit, Empathie und Know-how coacht Markus Blaschka homosexuelle Männer. Foto: Irmi Sinnesbichler

Die Gymnasiastin mit den Lachgrübchen in den Wangen und der Berater mit dem graumelierten Bart – sie könnten unterschiedlicher nicht sein und haben doch eine essentielle Gemeinsamkeit: Sie wie er hegen einen im Grunde genommen ganz einfachen Wunsch. Sie würden gerne ungescholten lieben dürfen, wen sie wollen. Häh, fragen Sie sich jetzt, was spricht denn bitteschön dagegen? Wir leben doch im 21. Jahrhundert, in einer westlichen, aufgeklärten, toleranten Gesellschaft. Tja, schön wärs! In Wirklichkeit leben wir in Bayern. Und da fällt es ganz schön vielen Menschen offensichtlich ganz schön schwer, eine andere als die eigene, erlernte Lebensweise auszuhalten. Das Kuriose daran: Was Anna und Markus ungestört ausleben wollen, würde das Dasein bajuwarischer Betonköpfe nicht im Mindesten tangieren, wenn die sich nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf stürzen würden wie verhungerte Wespen auf einen Zwetschgendatschi. Woran liegt das eigentlich, was ist das Problem? 

Anna l(i)ebt pan und polyamor

Nun, woher diese Wut  kommt, lässt sich leicht erklären. Wenn man das eigene Denken nur sehr einseitig füttert, zum Beispiel nur mit den „Bibelsprüchen“ von CSU-Hardlinern, es dann von den aus Hass und Lügen zusammengedrechselten Überschriften der Boulevardpresse befeuern und untermauern lässt vom „Gezwitscher“ gleichgesinnter Hassprediger auf X (ehemals Twitter) – ja klar, dann stirbt natürlich mit jedem einverleibten Bissen Gift ein Stückchen Gelassenheit, mit jedem verbalen Aufputschmittel ein Stückchen Anstand. Bis man eines morgens, ähnlich wie Kafkas Gregor Samsa, zwar nicht als Insekt, aber doch als wutschnaubendes  Getier erwacht, das nach Blut dürstet und seinen Mitmenschen – seien sie 18 oder 56 Jahre alt – den Tod an den Hals wünscht.

Kein Scherz, das kommt vor. Anna könnte ein Buch mit Hasstiraden füllen, bloß weil sie lieber Gemüse isst statt Schweineschnitzel. Sie könnte ein Windrad betreiben mit dem Luftzug, den das Kopfschütteln verursacht, das sie erntet, weil diese renitente Veganerin sich nicht nur dem Fleisch, sondern obendrein der heterosexuellen Fleischeslust verweigert. Die Rimstingerin lebt nicht nach jenen heteronormativen Regeln, die uns Kirchenväter und andere Patriarchen seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, als gottgegeben respektive „natürlich“ einbläuen. Pan und polyamor lauten die Fachbegriffe für ihre Formen des Liebeslebens. In Annas, deutlich einfacheren Worten: „Ich liebe Menschen, keine Geschlechter. Und manchmal mehrere gleichzeitig.“ Und was ist mit Markus? Der steht auf Kerle, schon immer. So what? 

Wer weiterliest, beweist Größe

Der Erfahrung nach befinden wir uns spätestens jetzt, da alle Karten auf dem Tisch liegen, am neuralgischen Punkt dieser Zeilen. Schon aus statistischen Gründen wird es ein paar Leser:innen geben, die das Heft nun am liebsten in die Mülltonne treten würden. Über dem Kopf wabert wütend eine Sprechblase, die sagt: „Was soll der woke Mist!?“ Nur, liebe Leute: Das ist kein Mist. Das ist ein Problem! Anna und Markus stellen ja keine Einzelfälle dar. Sie sind Statthalter:innen für viele, viele Menschen, denen die Existenz unnötig zur Qual gemacht wird. Nicht andauernd, nicht von uns allen, zum Glück, sonst müssten sie ja in tiefste Depressionen verfallen. Dennoch, da ist gewaltig Luft nach oben! Und deshalb sind Sie – ja Sie, gerade als Verfechter:in „klassischer“ Lebens- beziehungsweise Beziehungsmodelle – herzlich eingeladen weiterzulesen. 

Vielleicht haben Sie Kinder in Annas Alter, die manchmal ähnliche Zweifel an der einen oder anderen (fragwürdigen) Norm äußern? Vielleicht wären Sie selbst in Wirklichkeit gern ausgebrochen, früher mal, haben sich aber nicht getraut? Vielleicht haben Sie Freunde oder Bekannte, die durchmachen müssen, was man offenbar nach wie vor durchmachen muss, wenn man nicht ins Raster passt? Was man da mitunter erleiden, hören, lesen muss, das kann einem außenstehenden, halbwegs empathiebegabten Menschen fast die Tränen in die Augen treiben – ich werde nicht umhin kommen, Sie mit der einen oder anderen Hasstirade zu malträtieren. Sie würden es mir sonst nicht glauben, wie Fremde, Nachbarn, selbst honorige Würdenträger plötzlich ihre gute Kinderstube vergessen und sich in Barbaren verwandeln. (Falls Sie zu jener Gattung gehören, Ihnen also schon übel aufstößt, wenn Sie nur das Wort „queer“ lesen – bitte, bleiben Sie dran, so feindselig kann es doch nicht weitergehen!)    

Straffes Programm für eine Abiturientin

Wenn ich die Stunden meiner Tage so durchzähle, ist es mir ein Rätsel, wie Anna ihr straffes Programm bewältigt. Zumal sie neben ihrem Engagement tatsächlich Zeit findet für das, was junge Leute eigentlich tun sollten: das Leben genießen! In ihrer Freizeit malt sie, bouldert, geht (eis-)schwimmen oder wandern und bereist die Welt. In den letzten Sommerferien zum Beispiel Schweden, abwechselnd in Trekkingschuhen oder im Kanu. Wenn sie ihre Erlebnisse und Abenteuer auf Instagram teilt, wirkt das so fröhlich, so unbeschwert. Und ich frage mich: Wie macht sie das, so frohgemut bleiben? Denn neben diesen „harmlosen“ Alltagsbildern tummeln sich die, die reflexartig den (bayerischen) Konservatismus provozieren. Da reicht schon eine um die Schultern geworfene Regenboggenflagge und der Wutbürger dreht komplett am Rad. Als wären Konzepte wie Polyamorie oder Queerness verwerflich oder gar ansteckend. 

Schon komisch: Dieselbe Klientel, die den Begriff „queer“ nur abschätzig über die Lippen bringt, beschwert sich gern über die angeblich ach so faule, nichtsnutzige Jugend. Nun, diese Jugendliche hat mit 16 Jahren Parteiprogramme durchgeackert. Sie hat Politiker:innen persönlich kontaktiert und darum gebeten, sie argumentativ zu überzeugen. Ziel: Mitmischen im Politbetrieb. Nicht nur jammern über die bestehenden (Miss-)Verhältnisse, sondern die Ärmel hochkrempeln, etwas bewegen.

Hasskommentare nach Video

Inzwischen ist Anna im zweiten Jahr Vorständin der Grünen Jugend im Kreisverband Rosenheim. Uhhh, „grün“, da schäumts gleich wieder. Da hat diese faktenfreie Anti-Grünen-Kampagne von Rechts und Ganz-Rechts wirklich famos Früchte getragen. Wohin das führt, kann man bei Anna nachlesen, wenn sie politisch angehauchte Beiträge postet. Vor kurzem etwa hat ihre Kreisverbands-Gruppe ein (nur für Blindwütige nicht als augenzwinkernd erkennbares) Video veröffentlicht, in dem die Protagonist:innen  mit ein paar Vorurteilen und Klischees über „die Grünen“ spielten. Selbst wenn das eine oder andere zutreffen mag – was sich in der Kommentarspalte abspielt, ist ein menschliches Armutszeugnis. Setzen Sie sich besser, denn ich zitiere: 

„Schöne Fickfehler“.  „Hätte deren Väter nur 10 Sekunden vorher rausgezogen. Dann bliebe uns dieses Desaster erspart.“ „Der letzte Dreck.“ „ich kann meinen hass nicht in worte fassen.“ usw. Erschreckend (abgesehen von der hochnotpeinlichen Rechtschreibung): Das sind bei weitem nicht nur anonyme Hassnachrichten. Solche Aussagen kübeln Menschen mit Foto und Klarnamen ins Netz. So verkommen ist diese Gesellschaft geworden, angetrieben von den mit einmal schon viel zu oft erwähnten Brandbeschleunigern. Was muss vorgehen in einem Familienvater, damit der einer fremden Tochter das Lebensrecht abspricht? Nur, weil die nicht (nur) auf Kerle steht? 

Markus, der „175er“

Ebenso freundlich wie bestimmt fordert Markus Blaschka den gebührenden Respekt für die queere Community ein. Foto: Irmi Sinnesbichler

Homophobie an sich ist ja wahrlich bescheuert genug, aber das? Das grenzt an Soziopathie! War das früher auch schon so schlimm? War es besser, schlechter, anders? Ich frage Markus bei einer Tasse Kaffee, bei ihm zuhause in Raubling. An der Wand farbenfrohe Gemälde, auf dem Tisch die „Mutproben“ aus der Feder von Thomas Hitzelsperger. Jener Ex-Profifußballer, der 2014 mit seinem Coming-out eine Zeitenwende einläutete. „175er“ habe man „Männer wie ihn“ früher genannt, erinnert sich Markus. In Anlehnung an den Paragrafen 175, der während des Deutschen Kaiserreichs eingeführt worden war, im Jahr 1871, und „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern unter Strafe stellte.

Erst 1994 wurde dieses diskriminierende Sonderstrafrecht gegen Homosexualität gestrichen. Wenig überraschend, dass sich besonders die sogenannte „christliche“ Bundestagsfraktion schwer tat mit diesem Schritt. Sie hadern ja heute noch. Und dementsprechend taten (und tun) sich queere Menschen immer noch schwer mit ihrem Coming-out, also damit, sich zunächst nur für sich persönlich der eigenen sexuellen Orientierung bewusst zu werden, um diese schließlich im zweiten Schritt auch nach außen, anderen Menschen gegenüber, zu kommunizieren. Nicht übrigens, um diese damit zu missionieren, wie es Ewiggestrige gern glauben wollen. Es geht vielmehr darum, das einmal klarzustellen. Einfach nur, um als die Persönlichkeit wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden, die man nun einmal ist. 

Queer Power: Coaching für homosexuelle Männer

Ein irrsinnig schwerer Schritt in dieser zwar langsam auftauenden (wie Markus anerkennt), aber immer noch stark heteronormativ geprägten Gesellschaft.  Wer sich dieser zweigeschlechtlichen, heterosexuellen Ordnung nicht unterwirft, gilt als „anders“, als „abnormal“ – und erfährt Diskriminierung, Ausgrenzung, bis hin zu Gewalt. Was können wir, die aufgeschlossen sind, tun, um es ihnen leichter zu machen? Was tun sie selbst?

Foto: Irmi Sinnesbichler

Markus tut das, was er gut kann. Er hat ein Coaching-Konzept für homosexuelle Männer aufgesetzt: „Queer Power“. Dabei widmet er sich einerseits „klassischen zwischenmenschlichen Themen“, die jeden Menschen umtreiben (Beispiel: welcher Beziehungstyp bin ich?), andererseits will er schwule Männer auf dem Weg zu einer erwachsenen, reifen Identität begleiten – auch beim Coming-out. Anna indes werkelt mit dem Team des Rosenheimer LGBTQ+ Vereins an der Organisation des zweiten CSD der Innstadt.

CSD in Rosenheim

Der Christopher-Street-Day wird dieses Jahr am 1. Juni stattfinden, noch größer, bunter, lauter und professioneller als bei der Premiere. Auf Teilnehmende warten Infostände (unter anderem der Aids-Hilfe und der Stadtbibliothek), Podiumsdiskussionen mit fast allen im Bundestag vertretenen Parteien, Redebeiträge (unter anderem von Stadtpfarrer Thomas Schlichting und der feministischen Initiative „Slutwalk München“), ein Poetry Slam, eine Drag-Queen-Darbietung und diverse Kurz-Konzerte.  Diesmal soll vor dem bunten Rahmenprogramm ein Demo-Zug durch Rosenheim pilgern – und es wird was zu futtern geben!  

„Brauchts des?“, immerhin ist doch 2017 die „Ehe für alle“ eingeführt worden. Rein rechtlich dürfen seither auch gleichgeschlechtliche Paare heiraten und Kinder adoptieren. Ja, mag sein. Andererseits erleben wir ein Erstarken rechtspopulistischer Strömungen. Und die würden die Uhr am liebsten weit, weit zurückdrehen. Aus ihrer Ablehnung gegenüber Schwulen, Lesben, Bisexuellen, Transgender und queeren Menschen machen sie keinen Hehl. „Deshalb“, betont Markus, „ist Sichtbarkeit so wichtig“. Darum sind Veranstaltungen wie der CSD notwendiger denn je. Darum hängt er immer wieder die Regenbogenflagge aus dem Fenster. Es gelte, sagt er, endlich der ganzen Gesellschaft ein für alle mal klarzumachen: „Wir sind keine Aliens. Wir sind ein wichtiger Teil dieser Gesellschaft – und wir werden nicht klein beigeben!“  

Kontakt: drblaschka.de