Sie fördert Gemeinschaft, übt Gesellschaftskritik, überbrückt zwischenmenschliche Grenzen, regt zum Nachdenken an, bringt zum Lachen oder Weinen – Kultur kann ungemein viel. Wenn man ihr Raum gibt. Und wenn engagierte Menschen diesen Raum mit Leben füllen. Menschen wie Anna Grude.

Fotos: Jakob Werner, Wolfgang Silveri, Debora Mergler, Johanna Weber

Aus purem Zufall entstehen manchmal die großartigsten Dinge. Oder sollten wir besser sagen: im Affekt? Ist doch der Wahnsinn: Da hockt vor gut einem Jahr die Dramaturgin und Regisseurin und Musikerin und – ach, sprengen wir den Rahmen nicht schon an dieser Stelle, das wird gleich noch verworren genug –, jedenfalls hockte Anna Grude im Biergarten und erzählte in die Runde, dass sie einen Raum suche. Die vorangegangenen Wochen, wenn nicht Monate, hatte die Rosenheimerin damit verbracht, aus Christa Wolfs Roman „Medea.Stimmen“ eine Bühnenfassung zu machen. Damit das keine vergebliche Fingerübung bliebe, brauchte es nun genau das: eine Bühne, auf der das Stück zur Aufführung kommen könnte.

Flötzinger Chef spitzt die Ohren

Sie hören‘s nicht gerne, aber trotz seiner 63.000 Einwohner*innen ist Rosenheim in manchen Belangen ein Dorf. Man kennt sich… Trotzdem, wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass Grudes Geplauder auf die Gehörgänge von Lorenz Stiglauer treffen würde? Für Ortsunkundige: Der Mann reüssiert inzwischen als Geschäftsführer der hiesigen Flötzinger Brauerei (nachdem er dieser in seinen Anfängen im Marketing und Vertrieb eine erfrischende Verjüngungskur in puncto Außenauftritt verpasst hatte). An diesem Tag hört jener Lorenz Stiglauer also zufällig, wo Anna Grude der Schuh drückt. Doch das ist noch gar nicht des Pudels respektive Zufalls Kern!

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Zwischen Rosenheims Finanz- und Arbeitsamt lag lange Jahre das Wirtshaus „Zur Brez’n“. Streng genommen liegt‘s da immer noch, nur den Betrieb hat es eingestellt beziehungsweise wurde der in neue Räumlichkeiten verlagert. Das Gebäude stand nämlich nicht mehr wirklich „wie eine Brez‘n“. Den alten Kasten zu renovieren, wäre ein Faß ohne Boden geworden. Stattdessen hat Familie Steegmüller als Inhaberin sowohl von Brauerei als auch der Brez‘n beschlossen, erst die Abrissbirne, dann die Handwerker zu holen. Sprich: An der Ecke soll ein Neubau errichtet werden, der Wohnungen und Gewerbe beherbergen wird. Baubeginn vermutlich Ende 2024. Bis dahin hätte geherrscht, was man gar nicht laut zu sagen wagt in Innenstädten: Leerstand. Ja, das Gespenst geht durchaus auch in der vom ZDF regelmäßig weichgezeichneten Innstadt um. Zum Glück erweist sich Stiglauer nicht nur als famoser Geschäftsmann, sondern auch als ebenso mutiger Geisterbeschwörer. Er bot Anna Grude kurzerhand an, die verwaisten Räumlichkeiten zu nutzen. Zeitgemäßer ausgedrückt, sie pop-up-artig mit Kultur zu bespielen. Die Theatermacherin, so der Deal, dürfe sich kulturell austoben in der Bude, aufkommen müsse sie lediglich für die Nebenkosten.

Grude und der Weibsteufel

Ein gutes Gespür hat er, der junge Flötzinger-Chef, das muss man ihm lassen! (Um den darauffolgenden Erfolg des Projekts nicht wieder Bruder Zufall in die Schuhe zu schieben.) Er konnte ja schwerlich wissen, dass Grude das Prinzip des Pop-up-Theaters quasi in dieKarriere-Wiege gelegt war. Kleine Zeitreise ins Jahr 2010. Damals inszenierte ein gewisser Manuel Braun in einer umfunktioniertenScheune in seinem Heimatdorf Vagen tief im Westen des Landkreises Rosenheim Karl Schönherrs Drama „Der Weibsteufel“. Es handelte sich um Brauns erste Regiearbeit, er selbst war noch ein relativ unbeschriebenes Blatt in der Szene, wenngleich immerhin schon Regieassistent am Münchner Volkstheater. Die Aufführung wurde überregional gefeiert, Braun schnell zu einem gefragten Regisseur und Videokünstler. Seine Regie- und Ausstattungsassistentin: die damals 15-jährige Anna Grude. Damit zurück in die Gegenwart.

Achtung Brigitte (und der Typ in der Mitte!, so viel Zeit muss sein).

Rosenheims Stadträtin Ricarda Krüger teilt mit Anna Grude nicht nur eine Wohnung. Die beiden Frauen stehen auch regelmäßig als fröhlich-subersives Duo „Achtung Brigitte!“ auf Konzertbühnen. Krüger am Mikro, Grude am Akkordeon. In dieser Konstellation covern sie seit 2018 auf höchst eigenwillige Weise Songs. Als „Folk-Punk“ beschreibt Krüger den Sound. Das mag zunächst als Gag begonnen haben; als provokantes, leicht schräges musikalisches Statement anlässlich des Frauenkampftags, zu dem sie in der Vetternwirtschaft als Vortragende geladen waren. Doch in der – für ZDF-Zuschauer wahrscheinlich überraschend – aktiven Rosenheimer alternativen Szene kam und kommt das kreischbunte Œuvre gut an. So gut, dass inzwischen sogar ein Gitarrist mitmischen darf. „Achtung, Brigitte und der Typ in der Mitte“ nennen sie sich halt jetzt. Um nicht gänzlich abzuschweifen: „Unfassbar klug, ultra-lieb, wahnsinnig hilfsbereit und irre fleißig“ sei Grude, sagt Krüger. Sie sei eine, die sich in alles, was sie anpackt, so richtig reinfuchst. Wenn sich plötzlich ein neuer Stapel Bücher in der Wohnung auftürmt und Anna den Kopf tagelang in den Werken vergräbt, dann weiß die Mitbewohnerin: Hier wird ein neues Thema von der Pike auf durchleuchtet.

Im Affekt ist Teamwork Dreamwork

Ob es Ratgeber zum Thema „Wie gründe ich ein Pop-up-Kulturzentrum“ gibt, ist nicht überliefert. Feststeht, dass Grude binnen weniger Wochen eins aus dem Boden gestampft hat. So viel Zeit muss sein: nicht als Einzelkämpferin! An ihrer Seite stehen der Dramaturg Ludwig zur Hörst und Andreas Schwankl, Vorsitzender des Jungen Theaters Rosenheim (JTR), das quasi als Dauergast im „Affekt“ firmiert. Affekt: So hat das umtriebige Team diesen Raum getauft, dieses Kultur- und Begegnungszentrum, das offensichtlich einen Nerv getroffen hat mit seinem niedrigschwelligen, im positivsten Sinne unbedarft zusammengestellten Programm.

Auch ein Macher: Markus Hoppe vom Hoppebräu

„Wir wollen, dass der Punk neben der Bildungsbürgerin steht und sich beide unterhalten und wohlfühlen“, beschreibt Grude das Konzept. Konkret hieß das bislang, dass vom Gastspiel eines ukrainischen Ensembles über diverse Ausstellungen, Konzerte, Kinoabende, Lesungen und Gesprächsabende bis hin zu Schauspiel-Workshops schon so ziemlich alles imAffekt stattgefunden hat, was man sich unter „Kunst und Kultur“ vorstellen kann. Über 70 gut besuchte Veranstaltungen im ersten halben Jahr. Darunter, um das nicht zu vergessen, die gefeierte Aufführung von Anna Grudes Erstling!

Neue Spielzeit startet am 22. September

Am 22. September startet die nächste Spielzeit mit einer Zusatzvorstellung der JTR-Produktion „HANSI‘m GLÜCK“. Apropos Glück: Vielleicht ist das ja das passendere Wort. Treffender als Zufall. Weil sein Glück kann man bekanntlich schmieden, und Anna Grude hält die Esse wahrlich am brodeln. Damit sie nicht überhitzt, hilft neben den genannten Herrschaften seit kurzem auch Ramona Weiß mit, den Laden am Laufen zu halten. Die Djane hat Grude vor ein paar Monaten während der Vernissage zur Foto- ausstellung „Endorfer Au – Geschichten und Gesichter“ kennengelernt. Grude hatte gewitzte Texte zu den Schwarz-Weiß-Bildern der Fotografin Debora Mergler beigesteuert, Weiß schweißtreibende Techno-Klänge. 

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Im Kopf der weiblichen Hälfte des Rosenheimer DJ-Duos „melting.the.people“ schwirrt schon länger die Idee herum, einen Kunst- und Kulturverein zu gründen. Mehr netzwerken, Kräfte besser bündeln soll der. Warum das nicht mit dem Affekt verbinden? Das Kulturzentrum kann ein kleinwenig festere, soll heißen, dem bayerischen Behördenwesen behaglichere Strukturen ohnehin vertragen. Obwohl der Betrieb bislang überraschend unbürokratisch läuft, im Zusammenspiel zwischen Gründer-Team, Stadt Rosenheim, Flötzinger Bauerei sowie Asta-Kneipe als mit Schanklizenz ausgestatter Partnerin. Dennoch: Für einen auch künftig reibungslosen Betrieb täten dem Kulturzentrum Spenden gut. Das lässt sich über einen Verein sicher sauberer abwickeln. Und es schadet ja auch nicht, über die Zeit der Zwischennutzung hinaus zu denken. Wäre doch jammerschade, wenn mit der alten Brez‘n auch das Affekt verschwände! In der Gründungsphase befinde sich der Verein, sagt Weiß.

Anna Grude darf derweil schön langsam in die Feierphase eintauchen. Das Programm für die kommende Spielzeit klingt vielversprechend, das Interesse des Publikums scheint ungebrochen, und vor kurzem kam Mitbewohnerin Ricarda Krüger mit froher Kunde aus einer Sitzung des Kulturausschusses nach Hause. Die neue Kulturförderpreisträgerin der Stadt Rosenheim wird Anna Grude heißen. Das ist nun ganz bestimmt kein Zufall. Es ist der verdiente Lohn für unermüdliches Engagement. Chapeau!

Programm

30.09. Collagenworkshop mit Franziska Eslami
Mitmachgebür: Pay as you want ab5€

07.10. „SHAKTI – the feminine energy“ – indisches Tanztheater

13.10. Kinoabend mit dem Kulturklub Rosenheim

14.10. Collagenworkshop mit Franziska Eslami
Mitmachgebür: Pay as you want ab5€

04. 10. Konzert: The Big Treat

25.11. Trickfilmfestival mit Workshop

02.12. – Konzert: Das Mittelmeer Orchestra (9 Musiker*innen mit 13 Instrumenten und einer Sängerin aus aus 4  Nationen. Es entsteht gemeinsam ein Klang, der uns durch die verschiedenen Kulturen von Griechenland über die Türkei bis nach Mazedonien führt, der aber gleichzeitig etwas völlig Neues darstellt.)

09.12. Veganes Mitbring-Buffet

Aktuelle Infos via Instagram @affekt.rosenheim

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