Als „Kulturgestalterin“ vom Starnberger See lässt Elisabeth Carr faszinierende Veranstaltungen stattfinden – mit Vorliebe abseits herkömmlicher Spielstätten. Auch diesen Herbst.

Über Nacht flieht der verschuldete Pächter, die Gastwirtschaft im Oberen Mühltal verwaist. Vier Jahre lang setzt niemand einen Fuß hinein. Bis Elisabeth Carr den Laden aufschließt, eine Kerze anzündet und Kafka lesen lässt. Für drei Stunden erwacht der Gasthof zu neuem Leben, literarischem Leben. Ein „KunstRaum“ öffnet sich, auch in den Köpfen des Publikums. Dann bläst Carr die Kerze aus, sperrt ab und lässt das Haus in seinen Dämmerzustand zurücksinken.

„Wir, die wir hier in Wohlstand, landschaftlicher Schönheit und gesunder Natur leben, sind geradezu verpflichtet, weniger den materiellen Reichtum voranzutreiben, als vielmehr den Menschen auch Kunst und Kultur nahezubringen“, erklärt die Kulturgestalterin, was sie motiviert. Diesem Unterfangen widmet sich die Starnbergerin seit 16 Jahren neugierig und experimentierfreudig. Carr hat im Starnberger Fünf-Seen-Land bereits weit über 500 „KunstRäume“ geöffnet. Wie viele es tatsächlich sind? Die Frau mit den Kohleaugen unter den schwarzen Locken schüttelt fröhlich den Kopf. Das zu zählen hat sie längst aufgegeben.

Ungewöhnliche Kulturorte

Entscheidender ist, dass es sich bei den „KunstRäumen am See“ einerseits um klassische Spielstätten wie Konzertsäle oder private Salons handelt, andererseits auch um Orte wie Bunker, Bahnhöfe, Flüchtlingsheime, Turnhallen oder Katastrophenschutzräume, die auf den ersten Blick als Kulturorte nicht nur ungewöhnlich, sondern fast unmöglich erscheinen. Dabei gehen die Locations mit der Kunst, die darin gestaltet wird und die von Musik, Literatur, Performance bis Bildende und Medienkunst reicht, immer eine kreative Einheit ein. Manchmal nur für einen kurzen Augenblick, wenn sich Ort, Zeit, Kunst, Künstler und Publikum zu einem unwiederbringlichen Moment zusammenfügen wie damals, als Elisabeth gemeinsam mit ihrem Kulturpartner Gerd Holzheimer den Gasthof im Mühltal aufsperrte, oder wie an jenem Juniabend, als der Starnberger Wertstoffhof zum Catwalk für Eco-Modelabels aus Berlin, Brasilien und Mexiko wurde und „Recyceln“ eine neue Bedeutung erlangte.

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Grimms Märchen und Coco Chanel

Oder als Elisabeth den längst geschlossenen Gemischtwarenladen „Johann Biller“ aus seinem Dornröschenschlaf weckte, um dort Grimms Märchen mit Coco-Chanel-Zitaten zu mischen. Andere Räume wie die Roseninsel im Starnberger See, der historische Wartesaal König Ludwigs II. im Bahnhof der Kreisstadt, die Evangelische Akademie Tutzing oder das Schloss Kempfenhausen sind als „KunstRäume“ schon so etabliert, dass sie jährlichen Veranstaltungsreihen einen Rahmen geben. Dazu zählen das Echolot-Festival, Juni Spiele schön jung, die Tutzinger Brahmstage oder der Literarische Herbst. „Zu all diesen ‚KunstRäumen‘ habe ich einen persönlichen Bezug. Zum ‚Biller‘ hat mich meine Mutter Nähgarn holen geschickt. Im Bahnhof habe ich meine ersten Pommes gegessen“, sagt Carr, deren Familie seit Generationen am Starnberger See wohnt.

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Fotos: Hans Günther Kaufmann

Elisabeth Carr verwandelte ihr Haus in eine „Gallery to live in“

Der geistige Raum aber, in den Elisabeth Carr die Menschen treten lassen möchte, der öffne sich erst, „wenn das Publikum nicht auf klassisch-kühle Weise Kultur konsumiert, sondern wenn es Kunst ohne Sicherheitsabstand erlebt“, ist die sechsfache Mutter überzeugt. Wie das geht, beim Kunstgenuss auf jeglichen Abstand zu verzichten, haben Carr und ihr Mann bereits im vergangenen Sommer und heuer wieder am eigenen Leib erfahren. Für Wochen verwandelte das Paar sein Haus, die Villa Mussinan, in eine „Gallery to live in”, in der sich Gemälde, Installationen, Performances, musikalische und literarische Darbietungen zwischen Alltagsgegenständen und Möbeln einfügten. Während die Carrs in der Kunst lebten, öffneten sie den privatesten aller „KunstRäume“ an bestimmten Tagen auch dem Publikum, vor Ort und virtuell: Das ungewöhnliche Experiment ist als Film auf youtube anzuschauen.

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Von Starnberg in die Welt

Da Präsenzveranstaltungen in letzter Zeit kaum möglich waren, hat Elisabeth Carr einen neuen Raum betreten: den virtuellen. Hier sollten nicht nur Filme die Vorfreude auf „echte“ Kulturevents aufrechterhalten. Ganz neue Live-Formate wurden entwickelt, in denen der Zuschauer seine in der Pandemie erworbene oder erweiterte Leichtigkeit, sich im digitalen Raum zurechtzufinden, anwenden kann. So lösten zum Beispiel zwei (Zauber-)Künstler in der Zoom-Séance „Are You There?“ die Unterschiede zwischen Realität und Magie sowie alle geografischen Grenzen auf. Womit sich ein „KunstRaum“ geöffnet hätte, der von Starnberg aus in die Welt hinein reicht.

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Fotos: Nick Schrogl

Kunsträume am See

Der Literarische Herbst, den der promovierte Literaturwissenschaftler und Autor Gerd Holzheimer, 2002 aus der Taufe gehoben hat, gehört inzwischen zu den festen Institutionen, die in künstlerischer Zusammenarbeit mit Elisabeth Carr zwischen September und November stattfinden. Auf oft wundersame Weise wandeln sich die unterschiedlichen Orte zu außergewöhnlichen KunstRäumen. Zu den Highlights zählt das „Flirren am Starnberger See“ in seinem kulturellen Wiedererwachen der Nachkriegszeit, im Haus Buchenried der VHS München, mit Peter Weiß als Sprecher.

Ebenso wie der literarische Gang durch das malerische Bernried mit seinen einstigen Künstlern, denen Hans-Jürgen Stockerl seine Stimme leiht, oder das Staunen in einem selbstgebauten Schiff hoch über dem See, das eigentlich das Atelier des Landschaftsmalers und Baumeisters Richard Lipps ist. In einer poetisch-philosophischen Exkursion zeichnet Neurowissenschaftler Ernst Pöppel die Fluchtstationen des Widerstandskämpfers Albrecht Haushofer nach, zu Gast ist das Publikum dabei auf dem Hartschimmelhof der Familie Haushofer. Im Schloss Kempfenhausen erzählt Musikwissenschaftler Christian Lehmann das Leben und Wirken von Komponisten wie Brahms und Wagner musikalisch nach, im Salon der Miller Villa beschreibt die Autorin Monika Czernin die heimlichen Reisen Kaiser Josephs II sowie das Europa der Aufklärung und in einem ehemaligen Lichtspielhaus, das heute ein Schuhhaus ist, lädt die Performerin Judith Huber zur literarischen Schuhschau „Let´s go!“ ein.

Das ausführliche Programm sowie alle weiteren Informationen sind zeitnah nachzulesen auf der Website der KunstRäume am See. Karten können ab 13.September reserviert werden.

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Fotos: Nick Schrogl