Früher große Gastro, heute kleine Manufaktur – Barbara Seemüller weiß, wie man nach einem schweren Verlust wieder Mut fasst. 

Fotos: Andreas Jacob, Josefine Unterhauser, Manfred Huber, Jonathan Melanson, Kerstin Riemer, Quirin Seemüller

Auch nach 35 Jahren in Bayern hört man Barbara Seemüller noch ihre Wiener Herkunft an. Diese weiche Sprachmelodie, dieses unverkennbare, etwas in die Länge gezogene „a“. Es gehört (abgesehen von seinen geschichtlich bedingt vielfältigen Einflüssen) zu den ostmittelbairischen Dialekten, dieses Wienerische. Vielleicht finden wir es deshalb diesseits der Grenze so sympathisch, so wohlklingend. Und vielleicht hilft dieser Wohlklang Barbara Seemüller ja bei einer Tätigkeit, bei der dem Gespräch eine ebenso sensible wie verantwortungsvolle Aufgabe zukommt: Betroffene nach dem Tod eines geliebten Menschen durch die Trauer zu begleiten. In Prien und in Kolbermoor leitet sie mehrere Selbsthilfegruppen. 

Schaut positiv nach vorne: Barbara Seemüller.

Der Liebe wegen hat es die gelernte Schneiderin im Jahr der deutschen Wiedervereinigung aus dem idyllischen „Neustift am Walde“ im 19. Wiener Bezirk in die bayerische Landeshauptstadt verschlagen. Dort klappte es zwar mit der ersten Liebe nicht, dafür sollte die zweite, ein Gastronom, ihr Ehemann werden. Gemeinsam machen sie den draußen in Pasing, direkt an der wuseligen Bodenseestraße, gelegenen „Landsberger Hof“ zu einem weithin beliebten Triumvirat aus Gasthaus, Hotel und Biergarten. Zu dieser Beliebtheit tragen unter anderem die von Generation zu Generation weitergegebenen und dabei liebevoll verfeinerten Familienrezepte bei. Ein Umstand, der sich heute – viele Jahre nach jener Tragödie, die Barbaras Leben auf den Kopf stellen sollte – als Glücksfall erweist. 

Steinbachhof – aus neu mach alt

Den alten Steinbachhof, der auf einem Hügel zwischen Bernau und Prien am Chiemsee sitzt, hatte Sepp Seemüller schon vor seiner Ehe mit Barbara gekauft. Ein marodes Ding, das der Gastronom ursprünglich habe in weiten Teilen abreißen und durch einen modernen Neubau ersetzen wollen, erzählt Barbara. Doch während eines Ausflugs nach Tirol treffen der Bauherr und sein Kumpel auf einen Bauern, der einen bezaubernden alten Ofen verkaufen will. Seemüller schlägt zu – und wird von einem Geistesblitz getroffen. Er krempelt seine Baupläne komplett um. 

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Wenn man den Steinbachhof heute betritt, wirken die ebenso weitläufigen wie verwinkelten Räumlichkeiten mitsamt sämtlichem Interieur, als hätte alles Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte auf dem Buckel. Patina, wohin das Auge reicht. Der besagte Herd thront prominent in der guten Stube. Wurmstichige Balken und Wände mit verblichenen Intarsien verströmen Behaglichkeit. Knarzende Holztische, ein kunstvoll geschnitztes Schaukelpferd, die armlose Christusfigur – das alles wirkt, als gehöre es seit Anbeginn der Zeiten zu diesem Hof. In Wirklichkeit wurden die Dinge nach und nach zusammengetragen. Die alte Stube zum Beispiel stammt von einem ehemaligen Tiroler Landeshauptmann. Decke, Holzvertäfelung, alles in Österreich abgebaut und in den Steinbachhof eingepasst. Der ist in Wirklichkeit ein Neubau (beziehungsweise war Anfang der 1990er einer), er tut nur uralt. Diese Mimikry setzt sich drüben, in einem Nebengebäude, auf eindrucksvolle Weise fort. Auch dessen scheinbar verwittertes Fachwerk stammt aus der Gegenwart. Dahinter verbirgt sich im Erdgeschoss eine 5-Sterne-Ferienwohnung, im Obergeschoss ein rustikaler Partysaal, den man für Hochzeiten und ähnliche Feierlichkeiten mieten kann. 

Trauerbegleiterin nach Schicksalsschlag

Gut und gern zweieinhalb Jahre brauchte Barbara Seemüller, bis sie den plötzlichen Tod ihres Gatten (eine Lungenembolie) so weit überwunden hatte, dass sie sich sagen konnte: Nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Geholfen hatten ihr Selbsthilfegruppen und eine professionelle  Trauerbegleitung, die sie in München in Anspruch nahm. Ein Angebot, dass es hier, im Chiemgau, nicht zu geben schien, damals, im Jahr 2006. 

Die Witwe absolvierte eine zweijährige Ausbildung und rief eine eigene Trauerbegleitung sowie -beratung ins Leben. Sie sagt: „Wenn man trauert, ist es wirklich wichtig und hilfreich, rauszukommen.“ Bei aller Anteilnahme: Während bei  Nachbarn, Freunden, sogar bei der Verwandtschaft  bald wieder der Alltag einziehe, verändere sich das Leben direkt Betroffener meist völlig. Unter Gleichgesinnten lasse sich diese Situation viel leichter verarbeiten. 

Rat: Unbedingt den Nachlass regeln!

In ihrer Rolle als Trauerpädagogin plädiert Seemüller auch dringend dafür, sich frühzeitig mit dem Tabu-Thema Tod auseinanderzusetzen. Nicht nur aus emotionalen Gründen, quasi zur seelischen Prävention. Todesfälle bringen ja immer auch sehr weltliche Herausforderungen mit sich. „Regelt Euren Nachlass!“, rät Seemüller, die schon dramatische Erbstreitigkeiten und herzergreifende Schicksale mitbekommen hat – sei es, dass unverheiratete Partner*innen von den Eltern Verstorbener mangels eines Testaments aus dem gemeinsamen Haus geworfen wurden oder dass minderjährige Kinder keinen Zugriff auf das Vermögen bekommen. Zumindest diesen zusätzlichen Lasten könne man vorbeugen, indem man sein Testament verfasse. „Das ist ja nicht in Stein gemeißelt, und man muss dafür auch nicht zum Anwalt.“    

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Seemüller selbst hat seit kurzem eine ebenso tröstliche wie kreative Art gefunden, mit der Vergangenheit umzugehen. Zunächst begann sie, ein paar der alten Familienrezepte vom Landsberger Hof wieder hervorzuholen. Die legendäre Senf-Dill-Soße oder die eigenhändig hergestellten Gewürze. Und sie überlegte, wie man diese Schätze auch ohne eigene Gastronomie bewahren könnte. Aus diesen Überlegungen heraus ist ihre Manufaktur entstanden. Als „Die Seemüllerin“ fertigt die 55-Jährige eine kleine, aber feine Auswahl kulinarischer Köstlichkeiten.  

Auch eine starke Frau: Kräuterexpertin Andrea Illguth

Soßen (wie die bereits erwähnte Senf-Dill-Soße namens „DILL MAL“), Konfitüre (aus Aprikosen von der Wachau), Salze (mit Zutaten aus dem eigenen Garten, beispielsweise Bärlauch oder Tannen), getrocknete Apfelringe aus alten Sorten (die hinten, am südöstlichen Ende des Grundstücks wachsen), Zwetschgenröster, Blaukraut, bald kommen ein Wildgewürz sowie die früher von Gästen des Biergartens als legendär bezeichnete Spare-Ribs-Soße hinzu. 

Die Seemüllerin achtet auf Regionalität

Zeit hat Barbara Seemüller ja genug, jetzt, da die Kinder erwachsen und selten daheim sind. Ohnehin darf sich das Projekt ganz ohne Druck gemütlich entwickeln. Eine Liebhaberei, ein netter Nebenerwerb. Bei dem die Seemüllerin nicht nur auf die Qualität und – so weit möglich – Regionalität der Zutaten achtet (das meiste entnimmt sie ja wirklich dem eigenen Garten, so lange halt der Vorrat reicht), sie produziert auch möglichst umweltschonend. Die Gläser können und sollen wiederverwendet werden, es gibt kein Plastik in den Verpackungen, die Geschenkkörbchen entpuppen sich als Brotkörbchen aus recyceltem Leinen. In den nächsten Tagen wird sie die Produktion für das Bärlauchsalz hochfahren, die ersten Blätter sprießen schon. 

Nach Ostern werden dann schön langsam die ersten Familien die Ferienwohnung belagern. Von der Hügelkuppe oberhalb des Steinbachhof-Ensembles aus genießt man einen grandiosen Blick über den Chiemsee. An den Waldrand haben Barbara und ihr verstorbener Mann einen alten Getreidekasten gestellt. Noch so ein Fundstück aus Tirol. Heute sitzen die erwachsenen Gäste da oben gerne in der Sonne, während die Kinder ein nahes Baumhaus erklimmen. Die Seemüllerin lässt einmal pro Woche alles stehen und liegen und fährt entweder hinunter nach Prien oder bis nach Kolbermoor, als leuchtendes Beispiel dafür, dass nach Zeiten der Trauer auch wieder Frohsinn einziehen kann im Leben. 


 

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