In ihrem „Treffpunkt Grün“ am alten Einödhof im Chiemgau gibt Kräuterpädagogin Andrea Illguth Einblicke in die Wunder der Natur. In Frühling und Sommer geht’s zum Kräuterwandern. In der dunklen Jahreszeit werden Wurzeln verarbeitet und Kräuter verräuchert.

Fotos: Andreas Jacob

Es klingt, als würden Knochen bersten, als Andrea Illguth den Spaten ins Erdreich rammt. Der Altweibersommer scheucht Nebelschwaden über die Wiesen und Wälder rings um den Obereggerhauser Hof, jenes Einödgehöft, das die Urgroßeltern der Wurzelsammlerin hier draußen vor den Toren von Grabenstätt, einen Steinwurf vom Chiemsee entfernt, errichtet und bewirtschaftet haben. Später übernahmen die Großeltern den Betrieb, bis schließlich Schluss war mit der Landwirtschaft und den Viechern, im Jahr 1983. 

Unbeschwerte Kindheit auf dem Lande

Die Nachfahrin jener Bauersleut‘ stützt sich auf ihr Werkzeug, lässt den Blick über den Garten und den Hang hinunter schweifen und seufzt aus tiefster Seele. „Hier bin ich tief verwurzelt“, sagt sie und erzählt davon, wie sie als junges Mädchen um den Hof strawanzt oder runter zum Fischweiher gelaufen ist und wie sie mit dem Cousin (der folgerichtig später Schreiner wurde) tief versteckt im Wald ein kleines Hütterl gebaut hat. Das Paradebeispiel einer unbeschwerten Kindheit auf dem Lande. „Die Auffahrt“, sagt sie, „bin ich oft mit dem Opa im Bulldog heraufgetuckert, das Heu einfahren.“ Als die Eltern sich irgendwann vom Hof abnabelten und in einem für eine Elfjährige weit, weit entfernten Ortsteil ein eigenes Leben aufbauten, habe sie das tief getroffen, erinnert sich Andrea. 

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Aus Heimweh ausgebüxt

Das Heimweh habe sie tagtäglich geplagt, was dazu führte, dass sie den Weg fortan einfach zu Fuß hochgestapft kam. Genaugenommen büxte die Schlawinerin regelmäßig aus, um „Zuhause“ vorbeizuschauen. Sie hopste also ein paar Stationen zu früh aus dem Schulbus und tauchte unangemeldet bei den Großeltern auf. Zu dieser Jahreszeit (die ihren Namen den feinen Spinnweben verdanke, die man oft in der Herbstsonne glitzern sieht, erzählt Andrea), habe der Opa manchmal ein Stückerl Weihrauch auf den Ofen gelegt, mhm, wie das duftete! Weil es damals noch kein Telefon am Hof gab, musste sich die Oma ein ums andere Mal aufs Fahrrad schwingen und einen Kilometer weit nach Hirschau radeln, von wo aus sie dann bei Andreas Mama anrief und verkündete, dass die abtrünnige Tochter wohlauf sei.  

Ein Leben wie in einer Kommune

Heute wohnt das ehemalige Lausmädel wieder am Hof, mit dem Ehemann und den beiden Kindern, oben, im schick ausgebauten Heuboden. Der Bruder mitsamt Familie wohnt nach vorne heraus, zusätzlich ein paar Freunde – so genau scheint man nicht durchzuzählen. Fast eine kleine Kommune. Ihren Job in einem Traunsteiner Reha-Zentrum hat Andrea vor ein paar Jahren aufgegeben, um hier ihren „Treffpunkt Grün“ zu gründen, nach einem Schlüsselerlebnis, das sie wieder zurück zu den Wurzeln, zur Natur, zum Leben im Einklang mit den Jahreszeiten brachte. Ein Leben wie damals, in der Kindheit. 

Eine Kräuterwanderung. Andrea hat damals ohne rechte Lust teilgenommen, wie sie rückblickend zugibt. Ihre Gedanken kreisten zu jener Zeit nur um das Baby daheim und den Stress in der Arbeit. Doch dann geschehen zwei Dinge: Während des Marschs über Stock und Stein stellt die Teilnehmerin-wider-Willen zunächst entsetzt fest, dass sie zwar etliche der eingesammelten Kräuter vom Sehen her kennt – doch weder die Namen, noch über die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten und enthaltenen Kräfte Bescheid weiß. „Diese Unkenntnis hat mich wie ein Pfeil ins Herz getroffen.“

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Erweckungserlebnis beim Kräuterwandern

Zum Abschluss stellt die Kursleiterin die Gruppe im Kreis auf und räuchert alle ab – was endgültig einen Schalter in Andrea umlegt. Bis dahin hatte sie lediglich den Weihrauch vom Opa gekannt und die in der Stube stehende Dampfwolke, wenn es die Heiligen Drei Könige wieder mal besonders gut gemeint hatten. Doch der Duft dieses Kräuterbündels kroch ihr durch die Nase bis tief hinein in den Geist – eine echte Erweckung. „Da ist etwas von mir abgefallen“, erinnert sich die Grabenstätterin. 

Gleich am nächsten Tag informiert sie sich über Ausbildungsmöglichkeiten und schreibt sich an der Gundermannschule in Bad Tölz ein. Eine Einrichtung, die sich den Wundern der Natur verschrieben hat und überliefertes, ethnobotanisches Wissen rund um die heimische Pflanzenwelt lebendig hält sowie lehrt. Übrigens nicht nur vor einem spirituellen Hintergrund – die vermittelten Kenntnisse, heißt es, lassen sich wissenschaftlich begründen! Dort lässt sich die Chiemgauerin zur zertifierten Kräuterpädagogin ausbilden. Seither gibt sie Seminare und Kurse in und über die Natur, zur Kräuterkunde und gesunder Ernährung. Zu Beginn der dunklen Jahreszeit widmet sie sich zum Beispiel den Praktiken des Räucherns und der Wurzelernte. 

Beinwellwurzel – die Knochenheilerin

„Einen echten Schatz habe ich da gehoben“, ruft Andrea freudig. Die Kräuterpädagogin hievt ein gewaltiges, pechschwarzes Geflecht aus dem Boden. „Da kann ich viel Salbe draus machen“, sagt sie und klopft Erde von der Beinwell-Wurzel. Eine solche auszugraben, gehe ihr immer durch Mark und Bein, sagt sie, wegen dieses typischen Krachens und Knackens als gingen Knochen zu Bruch. Ein Geräusch, das Bände spricht, denn die Wurzel wird tatsächlich als (Knochen-)Heilerin eingesetzt. 

Tatsächlich tritt schon bei der Zubereitung des notwendigen Wurzelauszugs eine verbindende Eigenschaft zutage. Schwimmen die gesäuberten, mit dem Messer zerteilten Wurzelfragmente in warmem Olivenöl, scheinen sie sich wie magisch anzuziehen und wieder aneinanderzufügen. Heilsalben aus Beinwell kommen dementsprechend bei Prellungen, Verstauchungen und Quetschungen zum Einsatz. 

Wurzeln vor Allerheiligen ernten!

Die Urgroßeltern waren überzeugt, dass Wurzeln spätestens an Allerheiligen aus der Erde sein müssen. Noch heute halten sich viele ältere Menschen an dieses uralte Wissen. Es handele sich dabei um eine überlieferte Weisheit, die auf „Samhain“, das Totenfest der Kelten, zurückgehe, erzählt die Kräuterexpertin. Unsere Ahnen glaubten, dass in dieser dunklen, nebligen Zeit das Tor zu einer anderen Welt offensteht. Eine Welt, mit der auch Andrea in diesen Wochen der schwindenden Sonnenkraft gerne in Verbindung tritt. Ahnenarbeit nennt sie das. Dazu schnappt sie sich den Spaten, schlüpft in ihre  Gummistiefel und spaziert immer querfeldein, auf den Spuren der Wurzelgräber*innen früherer Zeiten. Mit der ausgegrabenen Beute stellt sie dann heilende Tinkturen und Ölauszüge her oder (im getrockneten Zustand) Mixturen für Tees und Räucher-Rituale. 

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Stichwort Räuchern: Um die erwähnte Ahnenarbeit zu illustrieren, betritt Andrea das im Garten thronende, kleine Häuschen, das ihr Mann (nachdem das marode Dach des alten Schuppens ohnehin wie in einer schicksalhaften Fügung eingestürzt war) zu einem gemütlichen Seminarhaus ausgebaut hat. Nur die unverputzten Grundmauern zeugen noch von der Vergangenheit. Um die eigene Vergangenheit zu beschwören und sich auf die persönlichen Wurzeln zu besinnen, erhitzt Andrea nun über einem Stövchen einige getrocknete Kräuter. Auf einer Empore unter dem Dach lagern in Säcken Kilo um Kilo dieser duftenden Schätze aus der Natur. Flechten – unter Kundigen auch „die Bärte der Ahnen“ genannt – legt die Chiemgauerin auf das Sieb, dazu kommen Harze heimischer Nadelbäume.

Räuchern ist kein fauler Zauber

Die Wärme der Kerzenflamme löst schnell die ätherischen Öle aus dem Pflanzenmaterial. Mit dem Rauch steigen sie auf, der Duft verbreitet sich schnell. Erdig und süß. „Wir alle haben ein Erbe“, erklärt Andrea, „das sitzt uns auf den Schultern.“ Sich damit zu beschäftigen, bedeute auch, womöglich problematische Dinge aufzulösen.  

Mithilfe duftenden Rauchs Stimmung und Befinden zu beeinflussen, ist alles – nur kein fauler Zauber! In der menschlichen Nase befinden sich abertausende Riechsinneszellen, die das Limbische System in unserem Gehirn anregen, also jenen Bereich, der Emotionen und Erinnerungen steuert. Jede*r kennt den Spruch: Jemanden oder etwas nicht riechen können. Das Phänomen gibt es natürlich auch umgekehrt. Allein der Gedanke an eine frisch gemähte Blumenwiese reicht ja schon aus – wer die Augen schließt und mit diesem Bild vor dem inneren Auge tief einatmet, spürt sofort dieses wohlige Gefühl. Ein Gefühl, das von Cumarin erzeugt wird. Dieser sekundäre Pflanzenstoff ist im Waldmeister, Steinklee oder Zimt enthalten – und eben auch in den heimischen Gräsern. Den Pflanzen dient er als Fraßschutz. Bei uns Menschen wirkt Cumarin venenerweiternd und setzt Glückshormone frei.

  • Alant
    Der Alant ist eine Sonnenenergie speichernde Pflanze und lässt Licht in unsere Herzen einziehen. Er wirkt desinfizierend und gemütsaufhellend. Zum Räuchern benötigen wir die (jeweils getrockneten und zerkleinderten) Wurzeln oder die Blütenblätter. Die Wurzeln graben wir im Herbst aus und trocknen sie. Sie verströmen einen feinen, veilchenartigen Duft. In der Pestzeit rauchte man die Blätter, um Keime abzutöten. Genau diese Eigenschaft spricht dafür, eine Räucherung in Krankenzimmern durchzuführen.

    Beifuß
    Der Beifuß (auch Sonnengürtel genannt) ist eine sehr alte Heilpflanze, die schon die Kelten nutzten. Unsere Vorfahren flochten sich aus dem Kraut einen Gürtel. Dabei woben sie all ihre Sorgen, Wünsche und Ängste mit ein. Im keltischen Brauchtumskalender an "Samhain" (später zum christlichen Fest Johanni) trugen sie den Gürtel um die Taille. Er wurde der Glut des Feuers geopfert, im festen Glauben daran, durch dieses Ritual gut übers Jahr beschützt zu sein. Wir räuchern mit der alten Zauberpflanze in Schutz,- Heil- und Stärkungsräucherungen.

    Dost
    Dost wird auch wilder Majoran genannt. Er ist nicht nur ein tolles Würzkraut. Mit seinen wärmenden Aromen und weitem Wirkungsspektrum hat er mehr zu bieten: Er besänftigt und beruhigt aufgewühlte Nerven und lässt uns Trauer besser tragen und überwinden. Ebenso findet er in Schutz- und Segensräucherungen seinen Platz. Er eignet sich wunderbar ifür morgenliche Räucherungen, um stressige Tage gestärkt anzugehen. Wir können getrocknete Stängel, Blüten und Blätter zu einer Räuchermischung machen.

    Engelwurz
    Ein würziger und aromatischen Geruch verbreitet sich mit ihrem Duft wohlwollend im Raum. Lateinisch "Angelica Archangelica", sollen in ihr die Kräfte aller Engel vereint sein. Mit ihrer Hilfe erkennen wir das Licht in unserem Leben und geben uns großzügig. Eine Räucherung aus den Wurzeln, Blüten, Blättern oder Samen verwenden wir für eine Licht- und Schutzreinigung. Engelwurz wurde früher oft in Sterbezimmern verräuchert, um den Übergang zu erleichtern und die Angst vorm Sterben zu lindern.

    Lavendel
    Der Lavendel ist eines der mediterranen Kräuter, die mit den Kreuzrittern aus fernen Ländern zu uns kamen. Über die Klostergärten fand er schnell den Weg in die Bauerngärten. Schon damals schätzte man seine krampflösende, beruhigende und antibakterielle Wirkung. Er wirkt desinfizierend, macht sowohl müde Menschen munter, als auch nervöse ruhihg. Kinder sprechen besonders gut auf diese Heilpflanze an.

    Rose
    Ein Muss in jeder Liebesräucherung! Auch die Ur-Rose kam mit den Kreuzrittern und Seefahrern aus dem Orient zu uns. Inzwischen gibt es an die 400 verschiedene Rosenarten. Immer schon heimisch waren die Hundsrose und die Feldrose. Der Duft der meisten Blüten ist sehr intensiv. Doch mehr als der Duft und die Optik, waren früher die Früchte wichtig. Sie dienten als Nahrungspflanze, welche die Menschen mit Vitamin C versorgte. Rosenblätter zu verräuchern, schafft Verbindung und Versöhnung, besänftigt, fördert eine harmonische Beziehung und öffnet das Herz.

    Salbei
    Er hat viele ätherische Öle und kann sogar ohne Kohle verräuchert werden. In Huflattich eingewickelt, erhalten wir eine schöne, praktisch anzuwendende "Räucherzigarette". Er wirkt klärend, steigert die Konzentration und reinigt Häuser. Er ist keimtötend und geruchsneutralisierend. Ängste lösen sich besser und unsere Kreativität bekommt einen Kick. Kinder sprechen gut darauf an, wenn ihre Konzentration nachlässt. Der weiße Salbei umgibt uns mit einem schönen Rauch – gut bei Hausräucherungen, Personenräucherungen und als Begleiter bei Meditationen.

    Wacholder
    Eines der ältesten, bekannten Räucherhölzer stellt der Wacholder dar. Er wurde früher „Rauchholder“ genannt. Er ist leicht zu erkennen, nimmt er doch im Alter menschenähnliche Umrisse an. Ein alter Spruch besagt: Kranawitt (Wacholder) brennt im Haus – treibt Doctoren und Bader aus. Seine reinigenden und keimtötenden Wirkungsweisen stechen brillant hervor. Er schützt uns und klärt die Räume sowie unseren Geist. Zum Räuchern verwendet wir die Triebspitzen, das Holz und auch das Harz. Die Spitzen sollten im Spätherbst oder Frühjahr geschnitten werden. Das Räuchern der Beeren ist neu, sehr fein und zu empfehlen.

Die Tradition des Räucherns war etwas in Vergessenheit geraten, wird aber wiederentdeckt, seit mehr und mehr Menschen sich mit Themen wie Meditation und Achtsamkeit beschäftigen. Früher, sagt Andrea, habe der Rauch das ganze Leben begleitet. Geburt, Heirat, bei Krankheit oder am Totenbett – zu den verschiedensten Gelegenheiten entzündeten die Altvorderen  passende Kräuterbündel. Vor allem in den Raunächten, zu den Jahreszeitenfesten und später dann zu den christlichen Feiertagen. Mithilfe des Rauchs wurde orakelt und weisgesagt.  

Draußen, vor dem Fenster, nimmt der Nebel zu. Ein trüber Nachmittag geht in den Abend über. In den kommenden Monaten, sagt Andrea, steht die Zeit der Sammlung und des Rückzugs an. Das sehen wir an den Pflanzen, die ihre Blätter abwerfen, welk und dürr werden und sämtliche Nährstoffe nun in den Wurzeln speichern. „Wir sollten es der Natur gleichtun und in eine Phase der Entspannung eintreten, um Kraft für den quirligen Sommer zu tanken“, rät Andrea. Sie gibt eine Portion Alant auf das Stövchen. Die Vorfahren sahen in der gelben Blüte das Abbild der Sonne, deren Kraft und Energie an dunklen Tagen an uns abgegeben werden könne. Also atmen wir den Rauch ein, inhalieren den Duft nach Veilchen und Weihrauch und hoffen, dass es Licht werde in unserer Seele.    

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