Namen wie Magdalena Neuner, Kati Wilhelm, Uschi Disl oder Laura Dahlmeier kennen sogar Menschen, die nichts mit Biathlon am Hut haben. Eine Athletin aus dem Chiemgau schickt sich an, eine würdige Thronfolgerin dieser Legenden zu werden.

Fotos: Andreas Jacob

Februar 2017. Ein eisiger Wind zischt durch die verschneiten Wälder zu Füßen des Pflughörndls. Schneeflocken so dick wie Daunen wirbeln durch die klirrend kalte Luft. Sechs jugendliche Athlet*innen trotzen den beinharten Bedingungen. Sie wissen: Wer hoch hinaus will, muss bei jedem Wetter in die Loipe, muss dem inneren Schweinehund, man verzeihe die Audrucksweise, das vorlaute Maul stopfen. Ein paar Wochen zuvor hat sich im Chiemgau ein kleiner Förderverein gegründet: „Biathlon Rocks“ will sechs Nachwuchstalente an die nationale, im Idealfall sogar an die Weltspitze bringen. Zu dem Zeitpunkt starten die Sportler*innen schon allesamt in der höchsten nationalen Rennserie, dem Deutschen Schülercup. Das gemeinsame Ziel der Teenager*innen lautet: Profisport.

Der Verein kümmert sich um Sponsoren, organisiert das Training, kutschiert die Kids von Wettkampf zu Wettkampf – und wie es der Zufall will, spricht er ausgerechnet den himmeblau-Fotografen Andreas Jacob an, um die Anfänge des ambitionierten Projekts von ihm auf Bilder bannen zu lassen. „Unser“ Andi quälte sich also an jenem Februartag vor fast sechs Jahren ebenfalls hinaus in die Schneewüste an der Scharitzkehlalm bei Berchtesgaden. Nun haben wir eine der Biathletinnen von damals wiedergetroffen – denn die hat sich ganz schön gemausert.

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Abi auf der Sportschule in Lillehammer

Die Biathlon-Szene hat Julia Kink schon lang auf dem Schirm. Einerseits hat sie sich seit ihren ersten „Schritten“ auf Langlaufskiern (im zarten Alter von 6 Jahren beim WSV Aschau) und dem Wechsel zum Biathlon kontinuierlich gesteigert, andererseits ist sie einen ungewöhnlichen Weg gegangen. Einen Weg, der sie zuletzt nach Norwegen führte, wo sie – als erste Nicht-Norwegerin überhaupt – die Sportschule in Lillehammer besuchen durfte. Drei Jahre lebte, lernte und trainierte sie da oben, ehe sie diesen Sommer mit Abi in der Tasche sowie sportlich noch stärker in den Chiemgau zurückkehrte.

Hatte die 19-Jährige bei der letztjährigen Jugend-WM in Kasachstan schon geglänzt (mit zweimal Gold und dreimal Silber), katapultierte sie sich kürzlich bei den Deutschen Meisterschaften in Ruhpolding auch in ein breiteres Rampenlicht: Silber im Einzel, Platz fünf im Sprint und Platz sechs in der Verfolgung. Was in den Ohren von Uneingeweihten zwar solide, aber nicht bahnbrechend klingt, wird beeindruckend, sobald man das Gesamt-Tableau betrachtet. Rein läuferisch hat Julia unter anderem die Top-Biathletin Franziska Preuß in die Tasche gesteckt.

Das Schießen bremst Julia noch aus

Blöderweise besteht die Sportart aus zwei Disziplinen. Und die andere, quasi statische, kostet Julia an manchen Tagen noch den Sieg. „Ich habe ein bisserl ein Thema mit dem Schießen“, gibt sie zu und grinst. Halb so wild, bedeutet dieses Grinsen, wer seine Schwächen kennt, kann sie ausmerzen. Und daran arbeitet die gebürtige Frasdorferin im Schweiße ihres Angesichts. In einer durchschnittlichen Trainingswoche steht sie mindestens 20 Stunden auf den Skiern bzw. Rollern. Obendrauf kommt das vermaledeite Schießen. Mentale Trainings und neurologische Ansätze, die das Zusammenspiel zwischen rechter und linker Gehirnhälfte optimieren, sollen dafür sorgen, dass die „Scheiben fallen“, wie Biathlet*innen sagen. 

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Bei unserem Besuch am Stützpunkt in Ruhpolding kurz vor einem letzten Lehrgang, bei dem sie sich endgültig fit machen will für die Qualifikationsrennen zum IBU-Cup (die zweithöchste internationale Wettkampfklasse im Winter direkt unter dem prestige- trächtigen Biathlon-Weltcup), trifft sie jedenfalls zuverlässig. Ein Hoch auf den Vorführeffekt. „Im Training geht mir halt kein Stadionsprecher auf den Keks“, sagt sie und lacht. Sie hat sich eine angenehme Unbeschwertheit bewahrt, obwohl sie kurz davor steht, im Zirkus der ganz Großen mitzumi-schen. Was man braucht, um in die Gefilde vorzustoßen, in denen sich Vorbilder wie Dorothea Wierer oder Tiril Eckhoff bewegen? „Ehrgeiz, Disziplin, den Willen, alles zu geben“, sagt Julia – und muss schon wieder lachen. „Wir sind ja auch beim übelsten Mistwetter draußen…“

Dirndl oder Ski, das ist hier die Frage

Um ein Haar wäre Julia diese ganze Quälerei erspart geblieben. Zehn Jahre ist sie alt, als Papa Stefan sie vor die Wahl stellt: Trachtenverein oder Langlaufen? Zum Glück hängt sie das Dirndl an den Nagel. Auf Skiern ist sie da schon schnell wie der Blitz, reiht Sieg an Sieg für ihren Heimatverein WSV Aschau. Ein Jahr später absolviert sie in Ruhpolding ein Biathlon-Schnuppertraining – es wird von Anfang an eine Art Hass-Liebe. Julia liebt die Herausforderung, die Ansprüche an Geist und Körper – gleichzeitig hat sie von den ersten Rennen an geflucht, wenn es ans Schießen ging. Heute gehört sie zum sogenannten C- Kader, trainiert unter dem ehemaligen Weltcup-Sieger Andreas Birnbacher, genießt den Zusammenhalt und die Kollegialität der Truppe und wirkt ungemein entspannt für jemanden, der womöglich bald vor Millionen von Fernsehzuschauern um Medaillen kämpft. „Ich will zu Olympia“, sagt sie, als wäre es das normalste Ziel der Welt. 

Auch sportlich: Benedikt Böhm, Extrembergsteiger und Dynafit-Geschäftsführer

Womöglich hat ihre Coolness ja mit ihrem Ruhepuls zu tun? Der liegt bei 36 und hat schon so manche Arzthelferin ungläubig aufs Messgerät starren lassen. Oder verhält es sich so, dass sie wegen dieser ungewöhnlichen Grundruhe ständig den Kick sucht? Sie ist ja schon eine etwas rastlose Person. Nicht einmal in ihrer spärlichen Freizeit kann Julia die Füße stillhalten. Nach ihrem Ausgleich gefragt, nennt sie lediglich weitere Sportarten. Berggehen, Klettern, Radeln – und seit kurzem Kitesurfen. „Da macht die ganze Family mit.“ Yoga, um mal mehr Balance zu finden? Wäre gut, aber findet sie laaangweilig. „Zur Ruhe komme ich eigentlich nur richtig, wenn ich krank bin“, sagt sie. Wir wollen es ihr nicht wünschen. Ab Mitte November geht‘s wieder ans Eingemachte.