„Durch die Welt ein Riss“: Simon Viktor hat in Rekordtempo einen Debütroman geschrieben, der auf eindrucksvolle Weise ein nahezu vergessenes Kapitel deutscher Geschichte beleuchtet: das bis heute schwerste Eisenbahnunglück in Deutschland nach dem Krieg.  

Fotos: Bernhard Linder, Susanne Böllert

Sie haben die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts überlebt. Nun, wenige Wochen nach der Kapitulation Hitler-Deutschlands, befinden sich die Soldaten auf dem Weg nach Hause. Dann ereignet sich ein Irrtum. Mit fatalen Folgen: Ein mit amerikanischen Panzern beladener Güterzug fährt ungebremst auf den Viehzug auf, der die Männer transportiert und wegen eines Maschinenschadens kurz zuvor stehen geblieben ist. Die Landser, die in den hölzernen Verschlägen ihrem neuen Leben entgegenfahren, werden zerquetscht, zerrissen, zermalmt. In der Gewitternacht vom 16. Juli 1945 finden 106 aus Westfalen und dem Rheinland stammende Soldaten bei Aßling in Oberbayern einen Tod, der auf den Schlachtfeldern kaum brutaler hätte sein können.

„Das Zugunglück von Aßling ist bis heute das größte und tragischste der Nachkriegszeit“, sagt Simon Viktor. Lang hat der 38-Jährige überlegt, warum es in der Geschichtsschreibung kaum eine Rolle spielt. „Es mag daran liegen, dass sich diese Tragödie im Windschatten einer noch viel größeren ereignet hat. Also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, der radikalsten Zeitenwende überhaupt“, vermutet der Philosoph und Politikwissenschaftler, der selbst aus Aßling stammt. Ihm sei dieses Unglück, das durchaus im kollektiven Gedächtnis seines Dorfes wabere, allerdings nur sehr unscharf und ungenau, schon länger im Kopf herumgegangen. Doch musste die Zeit quasi erst stillstehen, um sich eingehender damit befassen zu können.

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Im Winterlockdown 2020/2021 zur Untätigkeit verdammt, verarbeitete der sonst als Künstleragent tätige Viktor seine akribischen Nachforschungen zu einem packenden Roman. „Meterweise Material“ habe ihm das Grafinger Stadtarchiv zur Verfügung gestellt. Auch im Archiv des BR ist der Rechercheur fündig geworden. Durch Dokumentenberge der Reichsbahndirektion, der amerikanischen Militärregierung und des ehemaligen Aßlinger Gendarmeriepostens hat er sich gebissen. „Das klingt trocken, war aber ungemein spannend. In dem Material stecken so viele unglaubliche Geschichten. Ich musste eher weglassen als dazu zu erfinden.“

Erzählstränge erst einzeln verfasst

Simons Erstlingswerk „Durch die Welt ein Riss. Das Zugunglück von Aßling 1945 – Geschichte einer Tragödie“ saugt den Leser von der ersten Seite an gleich hinein ins Geschehen – dabei ist der Plot schnell erzählt und das Ende von Anfang an bekannt. Geschildert wird die wahre Geschichte der 1.200 Soldaten, die nach fürchterlichen Monaten im heillos überfüllten Internierungslager in Bad Aibling endlich im Zug gen Heimat saßen, aus der Perspektive fünf fiktiver Protagonisten.

Das Tempo aber, mit dem das Buch auf die Nacht des Unglücks zurast, ist dem rasanten Schreibstil des Autors geschuldet. „Ich habe Schreiben nie gelernt“, stapelt Viktor tief, der schon früh für den Kulturteil der Süddeutschen Zeitung tätig war, „ich schreib’s einfach hin und dann steht’s da, wie’s steht.“ Ein einziges Mal habe er das fertige Buch von vorn bis hinten durchgelesen, sagt der Enddreißiger, in dessen borstigen, schwarzen Haarschopf sich erstes Grau einschleicht. Verfasst hat er die verschiedenen Erzählstränge nämlich alle einzeln, um sie erst später miteinander zu verweben.

Fünf Wochen im Keller gehockt

Nach gründlicher Vorbereitung habe er den Roman in nur fünf Wochen verfasst, versichert der aus graublauen Augen freundlich dreinschauende Mann in Jeans und Pulli glaubhaft. Was jeden Schreiberling neidisch machen dürfte, lässt sich aber nicht nur mit Viktors großer Gabe zur Visualisierung und mit seiner flotten Feder erklären, sondern sicher auch mit den Umständen, unter denen der Debütant die knapp 200 Seiten in die Tastatur gezimmert hat. „Kennst du diese Kellerabteile in den Mehrfamilienhäusern, deren Regale so voll gestopft sind mit Kram, der nicht mehr in die Wohnung passt?“, fragt Simon. Nun ja, eins dieser Regale hat er sich im Januar 2021 freigeräumt, um hier zwischen Akten, Klamotten und Laufrädern im Schein einer Akkulampe und von einem Heizstrahler mangelhaft gewärmt zu schreiben. Ein Szenario, das denkbar wenig mit dem bukolischen Bild eines am Mahagonitisch sitzenden, ins Grün schauenden Schriftstellers gemein hat.

Autor Simon Viktor am Ostufer des Ammersees

Maximal eine Stunde am Tag sei er in den Keller seiner Neuhauser Wohnung abgetaucht, um den Motor seiner „Textproduktionsmaschine“ anzuwerfen, sagt Viktor. Den Rest der Zeit habe er sich mit seiner Frau Leonie um die kleine Ruby und die neugeborene Cleo gekümmert. „Ein bisschen überflüssig habe ich mich schon gefühlt, als der Säugling und auch die ältere Tochter anfangs deutlich mehr Interesse an der Mutter als an mir zeigten“, sagt Simon und schmunzelt. Dazu habe Corona die Künstlerbranche, in der er seine Semmeln als Agent und TV-Autor verdient, komplett lahmgelegt. Beruflich derart kaltgestellt sei ihm die Decke der Münchner Stadtwohnung ordentlich auf den Kopf gefallen. Weder für den Maibockanstich mit Django Asül konnte er texten noch mit seinem Spezl Valentin Winhart die schrägen Einspielfilme für die Verleihung des Bayerischen Kabarettpreises produzieren und auch Auftritte für Bands und Kabarettisten gab es keine zu organisieren.

Großmutter erzählte von den Schreien der Verletzten

„Ein Buch zu schreiben, eins über das Zugunglück, das mein Dorf einerseits traumatisiert hat, das aber andererseits wie die gesamte Kriegs- und Nachkriegszeit von der Sprachlosigkeit der Alten verschluckt wurde, erschien mir ein geeignetes Projekt, um trotz Lockdown selbstbestimmt zu arbeiten“, erklärt Viktor. Ihm hat die Großmutter erzählt, wie sie als Kind in der Nacht die Schreie der Verletzten und Sterbenden hörte – im zwei Kilometer entfernten Nachbardorf – und wie Simons Uropa den Eingeklemmten zur Hilfe geeilt war. Doch, nimmt man es genau, hat Simon Viktor kein Buch über ein Zugunglück geschrieben. Mit „Durch die Welt ein Riss“ ist ihm vielmehr ein ungeschöntes Sittengemälde einer Dorfgemeinschaft im Umbruchsjahr 1945 gelungen – umrahmt von der schmerzhaft bildlichen Schilderung eines Unglücks, das der Fatalität eines Weltkrieges noch eins draufsetzt. 

„Ich bin davon ausgegangen, dass das Buch vor allem bei älteren Lesern ankommen würde“, sagt Viktor, „aber zu den Lesungen kommen viele Jüngere, die sich vom Buch Einblick in eine Zeitenwende versprechen, über die nie viel geredet wurde, die die heute oft beschworene an Drastik aber deutlich übertrifft“, schlägt der Autor eine Brücke in die Aktualität, in der das totgeglaubte Phantom eines dritten Weltkrieges tatsächlich zum Leben erwacht ist. Glücklicherweise ist Viktor alles andere als ein Schwarzseher, so spitzen noch aus den dunkelsten Zeilen seines Erstlingswerks Schalk und Optimismus hervor. Letzteren verbreitet vor allem die junge Generation, symbolisiert durch Marianne, die emanzipierte Tochter eines Großbauern, und dem jungen, gegen den strengen Vater aufbegehrenden Paul. Ihnen sind die letzten Sätze gewidmet: „Marianne schaut auf die Särge hinab, dann hebt sie den Kopf. Ihre Blicke treffen sich. Sie nicken sich zu.“ Hoffnung keimt, dass ihre Generation die Sinnlücke, die der Untergang des Dritten Reichs ins Leben der Besiegten gerissen hat, neu füllen kann. 

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Dass Simon Viktor, der bisher im Genre Comedy beheimatet war, ins ernsthafte Fach wechseln würde, war nicht absehbar. „Zumal ich mir die Frage, was aus mir mal werden soll, bis heute nicht gestellt habe“ sagt Simon und grinst, „bisher hat sich immer eins aus dem andern ergeben.“ Ein Studium der Tontechnik und Komposition, ein weiteres zum Geisteswissenschaftler, ein Tonstudio im Kuhstall, ein Plattenlabel, Ska-Bands, in denen er am Schlagzeug trommelte, Episoden als Barkeeper, Tellerwäscher und Wildwasser-Kajakfahrer, aber auch ein mehrmonatiger Abstecher in die deutsche Botschaft in Tirana reihen sich in Viktors kuriosem Curriculum aneinander.

Die Geburten der Töchter haben keineswegs dazu geführt, dass sich der jungenhafte Tausendsassa endlich nur einem Beruf verschreiben und Spontaneität gegen Sicherheit tauschen würde. „Ich habe mir genau überlegt, jetzt erst recht nur noch das zu tun, was mir Freude macht. Meine Töchter haben das Recht auf einen glücklichen Vater.“ Auch der Wohnortwechsel – seit Dezember leben Simon, Frau und Kinder in Dießen am Ammersee – hat der jungen Familie gutgetan. Während Leonie als Stadtplanerin in Landsberg arbeitet, ist Simon in Elternzeit und begleitet die Jüngste bei der Eingewöhnung in die Krippe. „So viel Freiheit wie hier im wunderschönen Fünfseenland hätten wir in München nie gehabt“, sagt Viktor, der am liebsten im oder auf dem Wasser unterwegs ist. Sollte er indes die Idee zum zweiten Buchprojekt, die derzeit unter dem dunklen Haargewirr Gestalt annimmt, umsetzen und er dafür ein historisches Ereignis aus dem München 1888 in Romanform gießen, gäbe es dieses Mal sogar einen Arbeitsplatz mit Tageslicht und Ausblick ins Grüne.

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