Zwischen Schufterei und Katharsis: Munich Mountain Girl Marta flieht nach einer Trennung einen Sommer lang zum Arbeiten auf die Mittenwalder Hütte. Kein Zuckerschlecken – und doch so befreiend.

Text und Fotos: Marta Sobczyszyn

Bucketlists: Schon immer habe ich Menschen beneidet, die eine führen – sei es für Urlaubsdestinationen, Berggipfel, Lifegoals oder ähnliches. Auf mich wirkt das immer so, als hätten die ihr Leben im Griff; hätten Ziele; wüssten, was sie (erreichen) wollen. Blöd, dass ich früher nie die Freundin von großen Zielen war. Wahrscheinlich aus Selbstschutz, denn der Gedanke, gesteckte Ziele nicht zu erreichen, hat mich regelmäßig in Panikattacken versetzt.

Fotos: Julian Rohn

Ich hatte eher kleine Fantasien: Einmal im Leben in Nepal eine entspannte Trekkingexpedition (bloß keine großen Klettereien!) machen, vielleicht ein Haus renovieren oder für immer in München leben. Auf einer Berghütte zu arbeiten, stand ganz unten auf der Liste – und auch nur im Geheimen. Denn ich mochte mein Leben, so wie es war: Job, Partner, Familie, Freunde und so weiter. Ich war glücklich und hatte nicht den Drang, auch nur ein Detail daran zu ändern oder irgendwelche Listen abzuarbeiten. Dann schlug Karma zu. An einem Donnerstagabend, zwischen Brotzeit, Feierabend-Bier und Netflix, trennte sich aus heiterem Himmel mein Freund. Ciao Kakao. Aus der Traum von dem geregelten, hippen Leben in der nördlichsten Stadt Italiens. Und ich stand da: mit gebrochenem Herzen, kürzlich beendeten Traineeship und somit ohne Job; einsam und mit 28 wieder zurück bei Mutti – und leider ohne Bucketlist, die jetzt abzuarbeiten eine gute Ablenkung gewesen wäre.

Abhauen ohne Geld ist nicht „Eat-Pray-Love“ auf Bali

Stattdessen heulte ich drei Wochen am Stück, hörte vor Kummer auf zu essen, fühlte mich unfassbar einsam. Ich war in meinem persönlichen Tal angekommen. Doch darf man der alpinen Philosophie Glauben schenken, kommt nach dem Tal bekanntermaßen der Berg. Und genauso war das dann auch. Ich hatte zwar keine Ahnung, was ich tun sollte, aber eins wusste ich: Ich brauchte eine Pause. Und zwar genau von diesem urbanen Lifestyle, dem Lärm, dem Strawanzen, dem pulsierenden Leben, dieser Rastlosigkeit. Capuccino hier, Lunchbreak da, Aperol Spritz dort. Meine Gedanken fuhren Fünfer-Looping: Ich war hin- und hergerissen zwischen Surfurlaub in Portugal, „Eat-Pray-Love“ auf Bali oder doch Work and Travel, irgendwo.

Ich wollte Ruhe. Strukturen. Freiheit. Leichtigkeit. Doch keine Idee fühlte sich richtig an. Vor allem hätte das alles wieder Geld gekostet – und das war quasi nicht vorhanden. Immerhin, mit jedem verstreichenden Tag lichtete sich das Chaos im Kopf – bis die Würfel fielen. Während meiner Jobsuche stieß ich auf der Webseite des DAV zufällig auf die Rubrik „Hüttenjobs“. Von da ab ging es bergauf. Bei vier Hütten habe ich mich beworben, mein persönlicher Favorit ist es schließlich geworden: die Mittenwalder Hütte.

Über den DAV zum Probearbeitstag

Zwei Wochen nach dem Erstkontakt per E-mail, einem Telefonat mit Hüttenwirt Bernhard sowie einem Probearbeitstag stand ich da, auf knapp 1.600 Höhenmetern, inhalierte die wundersame, heilende Bergluft – und vor mir lag er, der Hüttensommer. Ich spürte: das war die richtige Entscheidung. Positive Energie durchströmte mich, gleichzeitig mit der Ahnung, dass dieser Sommer anders werden würde, als ich mir das in meinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Die Mittenwalder Hütte ist eine Hütte des DAV, liegt mitten in den Felsen des Karwendelmassivs und bietet einen unfassbar facettenreichen Ausblick über das obere Isartal und die Alpenwelt Karwendel mit ihren Urlaubsorten Mittenwald, Krün und Wallgau. Für ambitionierte Bergwander*innen gehört ein Besuch der Mittenwalder Hütte zum Pflichtprogramm. Vorausgesetzt, man mag es steil bergauf.

Ich bin zwar ein Bergmädchen mit Haut und Haar, aber dieses steile Bergaufding hat mich nie in seinen Bann gezogen. Bergsteigen, Skitourengehen oder auch mit dem Radl den Berg hinauf war bei mir immer mit schlechter Laune und Null-Bock-Mentalität verbunden. Ich bin schon Berge hinauf, aber sobald es steil wurde: Alarm! Meine persönliche Hölle. Meine armen Eltern können eine ganze Arie davon singen. Doch der steile Weg zur Mittenwalder Hütte (Gott weiß, wie oft ich den mittlerweile gegangen bin) glich bald einem kathartischen Weinen. Es war einfach befreiend. Jedes Mal.

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Im Sommer kommen die Wanderer auf die Mittenwalder Hütte – auch bei Regen

So ein Tag auf der Mittenwalder Hütte sah in seinen Grundzügen immer gleich aus. Es variierte eigentlich nur zwischen Werktag und Wochenende, Regentagen und Nicht-Regentagen. Wobei der Regen kaum eine Rolle spielte. Sogar wenn es draußen wie aus Eimern schiffte, verirrten sich manchmal 30 Gebirgsjäger oder Touristen aus dem hohen Norden in die Stubn. Und das in einer doch recht alpinen Lage.

Zu tun gab es immer etwas: Betten machen, Hütte putzen, die WC-Anlage säubern, Service, in der Küche aus-helfen, ab und zu mal kochen, Holz hacken, Materialseilbahn aus- oder einladen, Bierfässer schleppen und so einiges mehr. Klingt super sweet, aber wir sprechen hier von 14 Stunden Arbeit am Stück. An manchen Tagen behauptete der Schrittzähler, dass ich 14 Kilometer gelaufen sei. Auf den paar Quadratmetern! Wie das zustande kam, ist mir bis heute ein Rätsel.

In vielen Köpfen herrscht eine romantisierende Vorstellung von Hüttenarbeit. Ein bisserl Karotten schälen, ab und an Tische abwischen, Smalltalk mit den Hüttengästen. Und Abends womöglich Yoga und schmökern im Achtbarkeitsratgeber… Doch die Realität sieht anders aus: Zwischen fünf und sechs Uhr morgens aufstehen, Frühstück vorbereiten, das komplette Haus auf Vordermann bringen. Und falls das noch romantisch klingt: Das Wetter ist in dieser Höhe unberechenbar. Auch mitten im August kann es Minusgrade und Schnee haben. Da fehlt es dann wirklich an der Romantik oder gar Lust, verschlafen die Überreste der Übernachtenden aus dem Porzellan zu putzen.

Viel körperliche Arbeit

Überraschenderweise ist mir der Einstieg ins Hüttenleben sehr leicht gefallen. Das lag zum einen sicherlich daran, dass ich meine Traurigkeit und mein Gedankenkino durch die viele körperliche Arbeit gut ausschalten konnte; zum anderen daran, dass ich durch viele Aushilfsjobs an der Tankstelle und im Service körperliche Arbeit gut abkann und sie mir sogar viel Spaß macht. Klar, man muss sich – wie bei jedem anderen Job auch – zunächst an das Team und die Abläufe gewöhnen, doch dank meines Ratschkatl-Daseins und meiner offenen Art war das kein Problem. Nicht einmal den täglichen Marathon fand ich schlimm.

Das Schöne an Hüttenarbeit ist ihre Ehrlichkeit und Bodenständigkeit. Kein urbanes „Chichi“, keine Technik, WLAN oder gar Handynetz, warmes Wasser nur in Sparrationen. Es ist völlig wurst, wie du gekleidet, wie du frisiert bist. So ein Aufenthalt lehrt sehr schnell, das Augenmerk wieder auf die kleinen Dinge im Leben zu lenken und diese wieder wertzuschätzen. Diaabende mit Bildern von Bernhards Expeditionen im Himalaya oder atemberaubende (buchstäblich atemberaubend!) Sonnenuntergänge konnten Highlights eines Tages sein. Überraschenderweise habe ich auch viel Besuch von Freund*innen bekommen – vorausgesetzt sie hatten Spezi und die Süddeutsche im Gepäck. Das galt quasi als Tauschwährung, wenn man mich treffen wollte an diesem Ort, der für mich während des Sommers immer mehr an emotionaler Bedeutung gewonnen hat.

Von der Mittenwalder Hütte geht es nur rauf oder runter

Kommen wir zum einzigen „Wermutstropfen“: So schön diese Hüttenarbeit ist, so anstrengend, nervenzehrend und zermürbend kann sie auch sein – physisch wie psychisch. Lange Tage, kurze Nächte. Man arbeitet auf kleinstem Raum zusammen, natürlich menschelt‘s und kracht‘s da auch mal. Wenn es zu viel wurde, konnte ich nicht mal eben einen Spaziergang unternehmen. Von der Mittenwalder Hütte geht es nur rauf oder runter. Da lernt man schnell, wie man Frust oder Ärger auch sitzenderweise auf einem kleinen Felsvorsprung innerhalb von zehn Minuten verarbeitet – und schon geht es nahtlos weiter.

Fazit: Ich möchte diese Erfahrung niemals missen! Wenn ich von meinem Sommer auf der Hütte erzähle, sage ich immer: „Es gibt ein Leben vor der Hütte und eins nach der Hütte.“ Dieser Sommer hat mich verändert, vor allem mein Innenleben. Und das nicht im Geheimen, sondern ganz offiziell. Als wir die Hütte Anfang Oktober langsam winterfest machten, habe ich mich aber doch auf daheim gefreut; aufs Stadtleben; auf meine Freunde und die Familie. Bernhard, Luise und die Mittenwalder Hütte habe ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge hinter mir gelassen. Auf dem Weg ins Tal ließ ich meinen Gefühlen freien Lauf. Die Tränen glichen den Krimmler Wasserfällen – doch diesmal waren es Freudentränen. Ich war über den Berg. Ich war glücklich. Der Liebeskummer war zwar noch nicht verschwunden, aber ich wusste, wo mein Herz wirklich hingehört: in die Berge.

ÜBER DIE AUTORINNEN:

Marta ist Mitglied der Community der Munich Mountain Girls. Dort versammeln sich on- und offline an die 15.000 Frauen, die die Liebe zu den Bergen vereint. Sie verabreden sich zu Touren, nehmen gemeinsam an Kursen teil und inspirieren und unterstützen sich gegenseitig. Wenn auch du eine Bergfreundin finden willst oder Tipps zu Themen rund um den Bergsport brauchst, dann komm zu den Munich Mountain Girls – für alle Frauen zwischen 16 und 66, für Anfängerinnen, Cracks, egal woher und mit welcher Motivation.