Sie Schauspielerin, er Schlagzeuger und Journalist – gemeinsam haben sie in Bad Aibling ein Demokratiefestival ins Leben gerufen, das im Mai 2024 in die nächste Runde geht.  

Wenn man vom Teufel spricht! Oder besser: von Wahrscheinlichkeiten. Weil, wie wahrscheinlich war das bitte, dass diese beiden Menschen, die damals via Tinder heftigst miteinander flirteten, sich ausgerechnet auf einem Olli-Schulz-Konzert erstmals über den Weg laufen sollten? Zufällig, wohlgemerkt! Wir sprechen ja nicht von der Gegenwart, in der dieser – einem breiteren Publikum bis dato eher als Sidekick (von den Fernsehmachern Joko und Klaas sowie von Satiriker Jan Böhmermann) bekannte – Singer-Songwriter mit seinem aktuellen Album die Nummer 1 der Charts belegt; quasi Mainstream geworden ist; und eine spitzenmäßig besuchte Tour hinlegt, inklusive Kissenschlachten, Crêpes auf die Hand, Duett mit dem Publikum – und natürlich wieder Station in München. Nur hat Schulz kürzlich in der rappelvollen Tonhalle gespielt, nicht im spärlich besetzten Circus-Krone-Bau, wie damals, Ende 2015, als der Schlagzeuger Paul Schmitz dort unverhofft einen alten Kumpel aus Bad Aibling erspähte, der – Paul traute seinen Augen kaum – mit besagter Tinder-Flamme quatschte. Ohne sie zu kennen, sollte sich glücklicherweise herausstellen. Lediglich einen Tickettausch habe der Kumpel anleiern wollen (Sitz- gegen Stehkarten) und sich Pauls Traumfrau zufällig aus der Schlange herausgepickt. Puh, ja, kompliziert das Ganze. Aber in dieser Ansammlung von Unwahrscheinlichkeiten und glücklichen Zufällen auch auf eine verrückte Art romantisch. 

Heiratsvermittler Olli Schulz

Der Schulzsche Erfolg von heute bietet jedenfalls einen schönen Anlass, mal wieder zurückzuschauen. Sich daran zu erinnern, wie der Paul damals sein Herz in die Hand genommen hat und hinüberspaziert ist zu Kumpel und Angebeteter, um deren „Verhandlungen“ kurzerhand zu unterbrechen: „Servus, ich wäre dann mal der Paul“, soll er gesagt haben, was jetzt, wenn wir ehrlich sind, nicht besonders eloquent klingt, aber zu jener Zeit reüssierte der Paul ja auch noch nicht als Chefredakteur und die heißbegehrte Dame war ihm (gibt sie im Nachhinein schmunzelnd zu) ohnehin längst verfallen. A gmahde Wiesn, quasi. Long Story short: Aufs Schulz-Konzert folgten: Heirat, Haus und Kind. Und nun unser Gespräch, das sich in Wirklichkeit nur ganz am Rande mit Olli Schulz beschäftigt, dafür ganz viel mit anderen Künstler*innen, vor allem aber mit den beiden, mit Paul und Claudia (um der Frau endlich einen Namen zu geben!), die ja selbst in der Kultur tätig und obendrein seit ein paar Monaten unter die Aktivist*innen gegangen sind. Als solche setzen sie jenem von rechtsaußen in die Gesellschaft geträufeltem Gift etwas entgegen, versuchen lauter, positiver, lustiger, gemeinschaftsstiftender zu sein als Hass und Hetze. Letzten Herbst ist ihnen das schon eindrucksvoll gelungen, bald soll ein Remake folgen. 

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Seine Bandkolleg*innen mögen weghören, aber ein eigener Nummer-1-Hit oder ein Tourleben im Nightliner reizen ihn nicht mehr sonderlich, erzählt Paul – mit treuem Hundeblick beteuernd, damit ganz bestimmt kein Understatement betreiben zu wollen. Er sei halt, sagt er, kein studierter Drummer, kein Virtuose, kein ausgefeilter Techniker, sondern mehr so der Typ „grundsolider Arbeiter im Hintergrund“. Damals, in der Kollegstufe, am Gymnasium Bad Aibling, hätte es ihm der Musiklehrer durchaus zugetraut, Schlagzeug zu studieren. Der Mann habe ihm aber auch erklärt, dass Paul sich dafür gewaltig reinhängen hätte müssen. Üben, bis die Finger glühen, sozusagen. „Da dachte ich mir, machst lieber was Gscheids, und habe Politikwissenschaft und Amerikanistik studiert – ich Depp.“ 

Im kleinsten Wirthaus Bad Aiblings

Auch ohne Drum-Diplom sitzt Paul (der mit der Band VAIT schon mal am ganz großen Ruhm schnupperte) heute als Schlagzeuger von Vero Reiser einer Rakete im Rücken, einer gesanglichen Urgewalt, einer Frontfrau mit der stimmlichen Schnurrkraft einer Janis Joplin, mindestens. „Zum Glück scheint die Vero gar nicht zu wissen, wie gut sie ist“, sagt Paul, grinst verschmitzt und hockt sich auf den Wohnzimmerboden, um mit dem Töchterchen Spielzeug-Kuchen zu backen. Das holzgetäfelte Zimmer bezeichnet er augenzwinkernd als kleinstes Wirtshaus Bad Aiblings. „Praktisch, so müssen wir nicht ausgehen.“ 

Dem Mann scheint sein rock-n-roll-befreites Leben so richtig zu taugen – und das meint er gänzlich unironisch. Naja, Rock ‘n‘ Roll betreibt er ja schon, auf seine Art. Nur halt hauptberuflich nicht mit Vero Reiser oder „Monobo Son“, mit denen er, seit letztem Jahr als fester Bestandteil der Kult-Band, jetzt im März ins Studio geht, um ein neues Album aufzunehmen. Seine Kohle verdient Paul im Stillen. Er rockt die meiste Zeit vom Schreibtisch aus, der nebenan im zum Büro umfunktionierten Wintergarten steht. Dort stapelt sich das „Classic Rock Magazine“, für dessen deutsche Ausgabe er verantwortlich zeichnet (nachdem er innerhalb von zwölf Jahren die gesamte Ochsentour vom Praktikanten bis hin zum Chefredakteur durchlaufen hat). Im Regal drängen sich Schallplatten, an der Wand hängt ein Bob-Dylan-Druck, flankiert von einer Akustik-Gitarre. Hier, im Wohnzimmer, beäugt John Lennon von einem signierten Foto herunter unser Gespräch.    

Schauspielerei schlägt Gastronomie

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Zwei Dinge hat sich Claudia Helene Hinterecker, geboren 1986 in Simbach am Inn, schon als junges Mädchen vorgenommen: Schauspielerin zu werden – und keinesfalls einen Mann mit bayerischem Dialekt zu heiraten! Während die aus einer Gastronom*innenfamilie stammende Niederbayerin das sagt, funkeln ihre lagunenblauen Augen keck zum Gatten hinunter, der prompt reagiert: „Jetzt hockt‘s da, mit mir Bauernfünfer“, ruft Paul wie aus der Pistole geschossen und setzt ein schelmisches Grinsen auf, der freche Holzkuchen-Konditor. Wie die beiden das machen, wird den gesamten Besuch über ein Mysterium bleiben. Sie scheinen sich telepathisch darüber zu verständigen, wer die Tochter bespielt und wer Rede und Antwort sitzt, bei mir droben, am Holztisch.  

Das Ehepaar Hinterecker Schmitz geht herrlich unverkrampft miteinander um. Die beiden können sich fantastisch frozzeln, necken sich wie zwei Frischverliebte, können ebenso gut austeilen wie einstecken, und zwar augenscheinlich, weil sie und er einerseits mit ordentlich Selbstironie gesegnet sind, beide andererseits ganz genau wissen, dass der Empathieregler sofort hochzuschnellen hat, wenn das Gegenüber allzu sehr von Weltschmerz oder Selbstzweifeln geplagt wird. Und jetzt mal ehrlich, wie soll man bitteschön nicht in schwachen Momenten an sich selbst zweifeln, wenn nach einem gewonnen geglaubten Casting (sowie laut Regisseur brillanter Darbietung) irgendwo am Ende einer Entscheidungskette dann doch eine Redaktion ein Veto einlegt, um die Rolle lieber jemandem mit vielen Instagram-Follower*innen zu geben anstatt auf schauspielerisches Können zu setzen. 

Feine Filmografie

Kein Scherz, ist Claudia so schon passiert. Da nützt es dir auch nichts, wenn du dein Handwerk an der renommierten Athanor Akademie für Theater und Film erlernt hast, wenn du an der Seite von Julia Jentsch geglänzt hast (in der ARD-Serie „Das Verschwinden“ unter Regisseur Hans-Christian Schmid), wenn du den Hamburger Krimipreis gewonnen hast mit einem „Polizeiruf 110“, wenn du unter Franz Xaver Bogner gespielt hast oder durch die harte Soap-Schule gegangen bist (als Winzerin Nina im Dauerbrenner „Sturm der Liebe“). Claudias „Filmografie“ kann sich sehen lassen, damit hier keine Missverständnisse entstehen!  

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Man könnte sich beider Anekdoten stundenlang anhören. Musik, Journalismus und Schauspielerei, das sind schließlich ergiebige Branchen. Von Paul könnte man sich erzählen lassen, was Billy Gibbons, einer der beiden ZZ Top-Vollbärte, ihm damals an der Hotel-Bar in Oslo über das Leben als Texas-Blues-Legende geflüstert hat, oder Rolling Stone Ronnie Wood über das Leben im absoluten Rock ‘n‘ Roll-Olymp. Auch höchst amüsant, welche Dramen sich Backstage in der „arschkalten“ Manchester-Arena abspielten, als sich Brandon Flowers, Frontman der Indie-Rock-Band „The Killers“, in dieser nordwest-englischen Küstenkälte eine akute Heißerkeit zuzog und das Konzert abgebrochen werden musste; was – ein für die Musikgeschichte tragischer Kollateralschaden – die Versöhnung der Musiker Bernard Sumner und Peter „Hooky“ Hook verhinderte, die sich seit Hooks Rauswurf aus der New-Wave-Post-Punk-Band New Order (Welthit: „Blue Monday“) nur noch über Anwälte unterhalten, an diesem Abend als geladene Gäste der Killers aber höchstwahrscheinlich ins Gespräch gekommen wären. Hooky habe Sumner nämlich, wie Paul mit eigenen Augen gesehen hat, einen zuckersüßen Zettel an die Tür geklebt, mit der Bitte, doch mal durchzuklingeln. Doch das Konzert endete vor Sumners Ankunft, der Sänger sollte die versöhnliche Geste nie zu Gesicht bekommen. 

Auf Du und Du mit den ganz Großen der Rockmusik

„Ich habe die letzten Zuckungen des Irrsinns dieser Branche miterleben dürfen“, fasst Paul seine oft kostspieligen Reisen zu Interviews mit den Giganten der Musikgeschichte zusammen. Inzwischen muss er dafür den Wintergarten, Zoom sei Dank, nicht mehr verlassen. Damit auch hier kein Missverständnis ensteht: Natürlich ist es cooler, einer Ikone wie Slash („ein richtig gemütlicher Kerl“) persönlich gegenüber zu sitzen. Nur sitzt halt das Geld in der Musikbranche nicht mehr so locker. (Während sich das Classic Rock Magazine nach wie vor einer erklecklichen Anzahl an Stammleser*innen erfreut. Und stetig kommen neue dazu. „Man wächst wahrscheinlich in unser Genre hinein“, vermutet der Chefredakteur.) 

Claudia schreibt zur Zeit ebenfalls. Sie arbeitet an einem eigenen Kabarettprogramm. Ursprünglich kommt sie ja von der Bühne her, hat die ersten professionellen Schritte am Garmischer Kultursommer unternommen, über zehn Jahre ist das schon her. Wenn sie über ihr anstehendes Solo-Programm spricht, übernimmt der bairische Dialekt unbewusst das Ruder. Scheint eine Herzenssache zu sein. Sie sagt, sie habe ein gutes Gespür für Gags, freue sich total, bald nach den eigenen Regeln auf der Bühne stehen zu dürfen. Paul hat noch kein Wort zu Gesicht bekommen. Bevor sie damit rausgeht, soll er zwar schon mal drübergucken, mit Worten könne auch er schließlich umgehen. „Andererseits ist er schon auch ein Gscheidhaferl, des musst erstmal aushalten“ (zwinker, zwinker.)

Noch mehr Musik: Johannes Sift im „Landler-Delirium“

An Material dürfte es Claudia nicht mangeln. Sie könnte zum Beispiel auf so kuriose Erfahrungen zurückgreifen wie die, als sie, frisch von der Schauspielschule kommend, mit einer Kollegin und einem selbst entwickelten Zwei-Personen-Stück in der Tasche durch die Lande zog – um beim Couchsurfing unverhofft in der Wohnung zweier Nudist*innen zu landen. Man mag sich das bildlich gar nicht vorstellen, wie sich die Wohnungstür öffnet und ein Paar im Adamskostüm ruft sein herzliches „Hereinspaziert“. Was Claudia an dieser Stelle nur verrät, ist, dass sie heutzutage politischer wird. Und damit landen wir wieder bei diesem großartigen Projekt, das die beiden (unterstützt vom Bad Aiblinger Verein „Raum und Zeit“ und vielen weiteren Institutionen der Stadt) letztes Jahr binnen weniger Wochen auf die Beine gestellt haben: das Demokratiefestival „Wir sind lauter“. 

Raus aus der Lethargie mit der schweigenden Mehrheit!

Man muss das an dieser Stelle nicht noch einmal en détail hochkochen, aber das Faß zum Überlaufen gebracht hatte ein queerfeindlicher Facebook-Post eines hochrangigen Bad Aiblinger Politikers, gefolgt von einer, höflich ausgedrückt, ungelenken Entschuldigung und gleichgültigem Schulterzucken von Seiten der Verwaltung. Kurz zuvor hatte der inzwischen vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestufte Ex-CDUler  Hans-Georg Maaßen einen Auftritt im Kurhaus. Claudia und Paul empfanden den wahrlich angebrachten Gegenwind als mickrig. Politik und Kurhaus schoben sich nur gegenseitig die Verantwortung zu. Eine kleine Demo gegen den Auftritt spazierte zwar durch die Stadt, sah sich aber verwunderten Blicken ausgesetzt, aus den Cafés und Restaurants heraus. „Da hab ich mich schon gefragt“, erinnert sich Claudia, „ob wir uns in der Gesellschaft heutzutage nicht mehr darüber einig sind, dass Rechtsextremismus absolut verwerflich ist.“ Statt in den Sand steckte das Paar die Köpfe zusammen und beschloss: Wir holen diese sogenannte schweigende Mehrheit jetzt aus ihrer Lethargie! Wir organisieren etwas Freudvolles, wir zeigen, dass die Gesellschaft Vielfalt und Offenheit und Demokratie liebt und lebt. Wir beweisen (so auch der Name des Festivals): „Wir sind lauter“.

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Und tatsächlich, er wurde buchstäblich ein Freudenfest, dieser erste Sonntag im vergangenen Oktober. Mit Musik, Kunst und Kultur; mit einem Programm für die ganze Familie; mit zahlreichen, bewegenden Redebeiträgen: alles überparteiisch, alles positiv aufgeladen und zur Freude allere Beteiligten bestens besucht. Die Resonanz war überwältigend, weit über Bad Aiblings Grenzen hinaus. Während die Menschen inzwischen in der ganzen Republik aufgewacht sind, planen Claudia und Paul schon die Fortsetzung ihres wunderbaren Festivals. Dieses Jahr, irgendwann im Mai, wollen sie es anlässlich der Europawahl etwas kleiner angehen, dabei vor allem die sogenannte Generation Z ansprechen. Mit „altersgerechten“ Musik-Acts finden gerade Gespräche statt. Schließlich darf man für Europa schon mit 16 wählen. 2025 wollen sie dann wieder so richtig auf die Pauke hauen. Die Bundestagswahl steht an. Und da schadet es sicher nicht, wenn wir Demokrat*innen uns noch einmal gegenseitig vergewissern: Wir sind und bleiben lauter!