12 Millionen Tonnen Lebensmittel werfen wir hierzulande jährlich weg. Die Sozialunternehmerin Günes Seyfarth rettet Gemüse und Co. und betreibt damit die Community Kitchen München.    

Wer brav aufisst, sorgt für gutes Wetter. Das haben uns die Eltern erzählt und wir erzählen es unseren Kindern. Die dreifache Mutter Günes Seyfarth geht noch einen Schritt weiter. Sie sagt: „Zu essen, was da ist, rettet das Klima.“ Seit zehn Jahren ist die 42-jährige Münchnerin als Lebensmittelretterin unterwegs, seit einigen Monaten stemmt  sie gemeinsam mit Judith Stiegelmayr ein Social Business, das in der Landeshauptstadt seines Gleichen sucht: Ihre im ehemaligen Allianzgebäude in Neuperlach beheimatete „Community Kitchen München“ kombiniert Lebensmittelverwertung mit Klimaschutz und ist darüber hinaus ein groß angelegtes Bildungs- und Sozialprojekt.

Wer es sich leisten kann, spendet

Die Zwischennutzung von unglaublichen 42.000 Quadratmetern inklusive einer perfekt ausgestatteten Großküche, die das Immobilienunternehmen Hines an die beiden Frauen vermietet, ist auf fünf Jahre angelegt. Nach einem mehrmonatigen Testlauf, bei dem  professionelle Köch*innen und freiwillige Schnibbelhilfen die diversen Untermieter*innen des Hauses in der Fritz-Schäffer-Straße mit frischem, gesundem Essen versorgten, lädt das Restaurant der Com-Kit Food GmbH seit 1. Februar auch die Öffentlichkeit zum Mittagessen ein. „Für 5,50 Euro gibt es ein warmes Gericht. Nachschlag ist kostenlos. Wer weniger isst, zahlt auch weniger. Und wer es sich leisten kann, ermöglicht durch seine Spende einer bedürftigen Person ebenfalls ein warmes Essen“, erklärt Günes das Restaurantkonzept.

Lebensmittel retten ist bunt

Gelb, grün, orange, rot und lila leuchten die Kürbisse, Zucchini, Auberginen, Avocados, Möhren und Tomaten, die vor der Lebensmittelretterin auf dem Tisch liegen. Wenn die Sozialunternehmerin und ihr Team am Morgen nicht ausgerückt wären, läge das ganze gute Gemüse jetzt im Müll. Stattdessen serviert die Community Kitchen vor dem offiziellen Mittagstisch einer Gruppe von interessierten Unternehmerinnen überbackene Tomaten, Gemüse-Pancakes mit Zucchini, Avocado-Toast und Mandarinen-Erdbeer-Smoothies. Wer mag, bekommt obendrein ein gesundes Birchermüsli mit Hafermilch oder lässt sich ein Spiegelei braten. Und als „Dessert“ erklärt Günes Seyfarth, warum die Lebensmittelretter*innen tun, was sie tun.

Ein Drittel aller Lebensmittel landet in der Mülltonne. „Allein in München werfen die Privathaushalte 165 Tonnen verzehrfähiges Essen weg. Pro Tag! Der Abfall aus Restaurants und Supermärkten kommt noch on top“, sprudelt Seyfarth los und beschreibt in einem Mordstempo den Weg, den ein Drittel aller weltweit produzierten und noch verzehrfähigen Lebensmittel geht: „Sie werden angebaut, gewässert, gedüngt, wobei Pestizide und Dünger ins Grundwasser gelangen, sie werden geerntet, wofür Maschinen und Manpower eingesetzt werden; anschließend werden die Lebensmittel gewaschen, verpackt, in den Supermarkt geliefert – und weggeschmissen.“ Anders ausgedrückt: Alles, was zwischen 1. Januar bis Ende April produziert wird, landet in der Tonne. Die Weltgesundheitsorganisation geht von 1,3 Milliarden weggeworfenen Tonnen Essen pro Jahr weltweit aus, für Deutschland von 12 Millionen Tonnen. 

Günes ist Gründerin des Vereins „Foodsharing München“

Diese Absurdität ist angesichts des Hungers auf der Welt nicht nur eine moralische Katastrophe, sondern auch eine ungeheure Ressourcenverschwendung. „Aus diesem Grund ist der Stopp der Lebensmittelverschwendung einer der wirksamsten Methoden im weltweiten Klimaschutz, wenn wir das realistischere Ziel von 2 Grad Klimaerwärmung erreichen wollen“, zitiert Energiebündel Günes das internationale Klimaschutzprojekt Drawdown und verliert während ihrer temperamentvollen Ansprache in keinem Moment ihr charakteristisches Dauerstrahlen. 

„Better without“: Ein Unverpackt-Truck ist im Süden von München unterwegs

Schon vor einigen Jahren hat die Tochter türkischer Einwanderer, deren Name auf Deutsch passenderweise „Sonne“ bedeutet, den Verein „Foodsharing München“ gegründet und mit dem Bayerischen Staatsministerium für Ernährung und Landwirtschaft eine mehrtägige Foodtruck-Aktion auf die Beine gestellt. An verschiedenen Standorten in der Stadt gab sie Essen aus geretteten Lebensmitteln an die Menschen aus, kostenlos und mit großer Resonanz.

Die drei Söhne als Motivatoren

Die Motivation für Günes Großaktionen – die ehemalige Tanzlehrerin hat bereits eine Krippe sowie den Mamikreisel zur Beschaffung und Weitergabe gebrauchter Kindersachen gegründet und ist außerdem als Business Coach für Gründer*innen sowie als Speakerin im Einsatz – zieht sie aus ihren drei Söhnen. Die sind acht, zehn und zwölf und sollen eine Welt erleben, in der nicht nur Klimakatastrophen, sondern auch Gedankenlosigkeit und Egoismus nicht Überhand nehmen. 

„Dass so viele Top-Lebensmittel weggeschmissen werden, hängt auch mit unserer Bequemlichkeit zusammen und unserem Anspruch, dass immer alles verfügbar sein muss. Kaum einer fragt sich, was am Samstagabend eigentlich mit den Regalen voller Brötchen und Beeren passiert“, glaubt Günes, die auch dem vorherrschenden Optimierungswahn eine Absage erteilt: „Nur weil eine Tomate etwas weicher ist oder ein Apfel eine Druckstelle hat, muss man sie doch nicht aussortieren!“

Schmackhafte Gerichte werden in der Community Kitchen München spontan gekocht

Während Günes als Foodsaverin schon lange Kooperationen mit Münchner Betrieben – vom Tollwood Festival über den Viktualienmarkt bis zur kleinen Bäckerei – pflegt und deren Spenden an Bedürftige weitergibt, läuft die Lebensmittelrettung in der Community Kitchen noch eine Nummer größer ab: 2.000 warme Mahlzeiten können die Community-Köch*innen täglich zubereiten. Wobei sie größtes Improvisationsgeschick beweisen müssen, denn was genau die Lebensmittelretter *innen am Morgen bei Großhändler*innen und Produzent*innen, bei Supermarktketten und Lieferant*innen, im Hofbräuhaus oder in der Großmarkthalle einsammeln, erfahren sie erst, wenn die frische Beute in ihrer Großküche gelandet ist. Innerhalb weniger Stunden entstehen dann schmackhafte Gerichte wie gefüllte Paprika mit Reis und Salat oder Frischkäse-Schmand-Brownies.

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What’s next? Catering und Gerettetes im Glas!

Nicht nur freiwillige Küchenhelfer*innen aus der Nachbarschaft lernen in der Community Kitchen, ob abgelaufene Lebensmittel noch verzehrfähig sind und wie sie haltbar gemacht werden können, auch Schulklassen werden in Workshops an die Themen Essensverwertung und Klimaschutz herangeführt. „Manche schälen hier zum ersten Mal einen Apfel“, hat Günes beobachtet, für die Aufklärung und Bildung der Schlüssel zur sozialen Teilhabe sind. Weitere Projekte in der Com-Kit-Pipeline sind ein Catering aus geretteten Lebensmitteln für Kitas, Schulen und Unternehmen sowie die „Marke im Glas“: Eingemachtes und Gedörrtes soll demnächst bundesweit im Einzelhandel in ganz Deutschland verfügbar sein. Demnächst werden die Foodsaver interessierten Schüler*innen außerdem ein gesundes Gratis-Frühstück anbieten.

Günes denkt und spricht gern in Superlativen und behauptet von sich, eine gewissen Naivität verleite sie immer wieder dazu, Projekte anzustoßen, deren Ausmaß sich vorher kaum überschauen ließe. Dementsprechend hat sie auch bei der jüngsten Herausforderung nicht gezuckt: Kurz nach Ankunft der ersten geflohenen Ukrainer*innen haben sie und ihre Geschäftspartnerin Judith Stiegelmayr gemeinsam mit der Münchener Caritas die Erstversorgung der Kriegsflüchtlinge am Hauptbahnhof übernommen. „Für uns hat das die Koordination von 300 Freiwilligen und die Ausgabe von 1.800 zusätzlichen Speisen am Tag bedeutet.“ Geht nicht, gibt’s nicht. Wer sich bei der Community Kitchen München engagieren will, kann über die Website Kontakt aufnehmen.