Die Initiative der „Stadtpflanzen“ bringt das „Urban Gardening“ nach Rosenheim. Die urbanen Gärtner träumen von der „essbaren“ Stadt.

Mythen hinterherzubuddeln trägt selten Früchte. Seien wir ehrlich: Letztlich halten nur „erfolglose“ Forscher und Wissenschaftler Mythen am Leben! So lange wir nicht definitiv wissen, wo genau sich die „Hängenden Gärten von Babylon“ befanden und wie sie wirklich aussahen, faszinieren sie uns. Die Unkenntnis bietet Spekulationsraum; regt unsere Fantasie an. Je nach Quelle soll jene gewaltige Gartenanlage übrigens mitten in der Wüstenstadt Babylon – südlich von Bagdad im heutigen Irak – von der sagenhaften Königin Semiramis oder aber von König Nebukadnezar II. gebaut worden sein. Ein ganzer Palast als grüne Oase. Glaubt man den Legenden, wuchsen die Pflanzen dank ausgeklügelter Bewässerungssysteme üppig über mehre Terrassen hinweg. Griechische Autoren berichten von einem Gebäude, dass sich über 120 Meter in die Breite, 120 Meter in die Länge und 24 Meter in die Höhe erstreckt haben soll.

Wo dieses Weltwunder der Antike auch gelegen, wie es tatsächlich ausgesehen haben mag – es bestätigt, was Anja Frohwitter sagt: „Urban Gardening ist nichts Neues.“ In der Tat: Wer sich mit der vermeintlich getrennten Geschichte von Stadt und Landwirtschaft beschäftigt, wird feststellen, dass erst die moderne, industrielle Gesellschaft Obst- und Gemüseanbau aus den Städten verbannte. Zuvor gehörten essbare Pflanzen über Jahrtausende zum Stadtbild. Die damaligen Transport- und Konservierungsmöglichkeiten waren viel zu unausgegoren, um Lebensmittel von weit her heranzukarren. Bauern betätigten sich eher als Selbstversorger denn als Zulieferer. Dann wandelte sich der Anbau von Nahrungsmitteln zur industriellen Massenproduktion, die Städte wuchsen und wuchsen – und die Grünflächen darin schrumpften. Städter pflückten Äpfel nicht mehr vom Baum, sie ernteten ihre Karotten nicht aus der Erde – sondern kauften das Essen im Supermarkt. Ein Prozess der Entfremdung setzte ein. Heute findet wieder ein langsames Umdenken statt. Viele Menschen besinnen sich und erwecken das innerstädtische Gärtnern unter neuem Label wieder zum Leben. Menschen wie Anja Frohwitter, Mitbegründerin und Geschäftsführerin der Rosenheimer Urban Gardening Initiative „Stadtpflanzen“.

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Inspiriert von Metropolen auf der ganzen Welt

„Wir sehen uns als Lobbyisten“, sagt die gelernte Fernseh- und Nachrichtenjournalistin. „Wir“ – das sind neben Frohwitter der Lufthansa-Pilot Sven Seynsche sowie ein ganzes Team an fleißigen Bienchen, die allesamt Einfluss nehmen wollen auf das öffentliche Bewusstsein. Den Leuten sei der Kontakt zur Erde abhanden gekommen, sagt Frohwitter. Sie wünscht sich, dass die Rosenheimer sich wieder mit dem Thema des städtischen Gemüseanbaus beschäftigen, wieder einen Bezug bekommen zu ihrer Nahrung. „Wir wollen zurück zur essbaren Stadt“, sagt Frohwitter. Das mag im ersten Moment esoterisch klingen, gemeint ist es völlig bodenständig. Die Stadtpflanzen gehen ihre Mission rational und mit wissenschaftlichem Know-how an. Sven Seynsche etwa hat extra die „Essbare Stadt“ studiert, an der TU Berlin. Zudem werden die Stadtpflanzen wissenschaftlich von der Landesanstalt Wein- und Gartenbau unterstützt, die eine eigene Forschungsabteilung zum Thema betreibt. Ziel: „Urbanes Grün mit seinen Wohlfahrtswirkungen in allen Ausprägungsformen – vom Straßenbaum, über Straßenbegleitgrün, Gärten- und Parkanlagen bis hin zur Bauwerksbegrünung – zu sichern und zu vernetzen.“ Auch die LWG betont die zunehmende Bedeutung wohnungsnaher Grünflächen für die Nahrungsmittelproduktion.

Bangkok, New York, Berlin – die Inspiration für ihren Traum von der essbaren Stadt haben sich Frohwitter und Seynsche in den Metropolen auf der ganzen Welt geholt. „Wo es eng wird“, sagt die vielgereiste Journalistin, „macht Not einfach erfinderisch.“ In jenen Metropolen zeigt sich auch wunderbar, wie ein wenig Mut gepaart mit innovativen Anbaukonzepten schier unfassbare Perspektiven der Nahrungsmittelerzeugung eröffnen. Man blicke nur nach Paris. An der Seine hat Bürgermeisterin Anne Hidalgo 2016 mit „Parisculteurs“ eine vielbeachtete Kampagne ins Leben gerufen. Bis 2020 sollen fast 250 Hektar an Dach- und Fassadenflächen begrünt werden – ein Drittel davon durch Urban Farming, also mit essbaren Pflanzen. Eines von inzwischen über 70 Projekten dieser Kampagne ist die Farm „Lachambeaudie“. Dabei bewirtschaftet ein landwirtschaftliches Start-up eine 5.380 Quadratmeter große Fläche auf dem Dach des RATP-Gebäudes über der Pariser Metro.

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Die Stadtpflanzen sprechen Endverbraucher, Restaurants, Unternehmen, Schulkantinen und die Stadt Rosenheim an

Nun ist die St. Nikolauskirche nicht Notre Dame; die Kunstmühle kein Eiffelturm; doch auch für eine Stadt wie Rosenheim sieht Anja Frohwitter viel Potenzial im Bereich des Urban Gardenings – weit über das vorhandene Schrebergartentum hinaus. Als Kunden spricht sie Endverbraucher, Restaurants, Unternehmen, Schulkantinen – und die Stadt selbst an. Ihnen allen wollen die Stadtpflanzen in Beratungsgesprächen und Workshops beibringen, wie die unterschiedlichsten Orte – vom Balkon über das Flachdach bis hin zu vertikalen Flächen – urbar gemacht werden können. Neben der Vermittlung urbaner Anbaukonzepte pflanzen Frohwitter und ihr Team auch eigenhändig Biopflanzen an. Die Zöglinge kann man käuflich erwerben – mitsamt sämtlichen notwendigen Materialien, vom Schaufelchen über den Pflanzsack bis hin zum einfachsten Hochbeet der Welt, dem Paillettenhochbeet.

Den durchaus gewinnorientierten Zweck ihrer Unternehmung verschweigt Frohwitter nicht. Zumal weitaus mehr hinter ihrem Engagement steckt. Um den Nutzen der urbanen Landwirtschaft für den gesamten städtischen Raum und seiner Bewohner deutlich zu machen, setzen die Stadtpflanzen auf Projekte wie das im Ortsteil Endorferau. Dort hat die städtische Wohnungsbaugesellschaft GRWS eine Fläche zur Verfügung gestellt, auf der in diesem Frühjahr in Zusammenarbeit mit „Startklar Oberbayern“ ein urbanes Beet angelegt werden soll – als Treffpunkt und Gemeinschaftsprojekt für die Anwohner. Sich gegenseitig kennenlernen, die eigene Nachbarschaft gestalten, voneinander lernen, eigene Nahrungsmittel heranziehen – das Projekt könnte aufzeigen, welche Vorteile ein systematisch gedachtes „Urban Gardening“ einer Stadt bringt. Neben gesunden Lebensmitteln nennen Forscher Aspekte wie Bildung, sozialen Zusammenhalt, Mitbestimmung, Raumgestaltung und Mobilisation als positive Folgeerscheinungen. Wem das alles zu abtrakt erscheint, blicke noch einmal nach Paris: Im Rahmen der „Parisculteurs“ sind weit über hundert Vollzeitstellen entstanden. „Wir sind bereit“, sagt Anja Frohwitter, „machen wir Rosenheim zur essbaren Stadt!“