Wieso die bayerische Volkskultur sich bewegen muss, um lebendig zu bleiben. Eine, die’s vortanzt, ist Tanzmeisterin Katharina Mayer, besonders gern auf dem Münchner Kocherlball.

Fotos: Peter von Felbert, Rasmus Keasmann, Privat

Überall ist Musik. Katharina Mayer hört sie im Wind in den Bäumen, im Singen der Vögel, in der Unterhaltung zweier Menschen. Wenn sie mit nackten Füßen durch die Wiese streift, moosige Steine, Erde und Laub im Wald unter den Sohlen spürt, dann ist er da, der Rhythmus, die Melodie des Lebens. Doch eigentlich ist es noch viel mehr als Klang und Rhythmus, es ist die Essenz, das Große im Kleinen, was die 45-Jährige in allem Belebten fühlt. „Und ich füge mich dort ein, bin ein Lebewesen von vielen auf der Suche nach meinem Platz“, sagt sie.

Der Titel „Tanzmeisterin“ hat Katharina Mayer mit dem Kocherlball geerbt

Vom Menschen als „Krone der Schöpfung“ will die Lenggrieserin nicht viel wissen. Die braungebrannte Frau im geblümten Kleid sitzt natürlich barfuß am Esstisch im Wohnzimmer ihres urgemütlichen Hauses in Gaißach und spricht mit leicht rauer Stimme über ihre Wurzeln in der bayerischen Volkskultur, ihre Geschwister und die Eltern, die sie stark geprägt haben, übers Jodeln und Singen und Musizieren. Vor allem aber übers Tanzen. „Ich bin ein Bewegermensch“, sagt sie, biegt den Rücken durch und reckt sich. Womöglich ist ihr grad danach, schnell mal aufzuspringen, die braunen langen Haare durchzuschütteln und eine kleine Polka auf den Dielenbohlen zu legen.

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Stattdessen erklärt sie, was es auf sich hat mit dem Titel der Tanzmeisterin, den sie seit ihren Zwanzigern tragen darf: „Diesen Ehrentitel habe ich mit dem Kocherlball geerbt.“ Das traditionsreiche Münchner Fest habe irgendwann immer weniger junges Volk angelockt, das sich das sich im Morgengrauen zu alten bayerischen Weisen wiegen wollte. Da das Kulturreferat der Stadt diese zauberhafte Traditionsveranstaltung aber nicht sterben lassen wollte, stellte man die junge Tänzerin dem alten Willi Poneder an die Seite, der seit vielen Jahren als Tanzmeister im Englischen Garten fungierte und, wie ein Kapellmeister die Musiker, die Tanzenden anleitete. Mit Worten half er denen auf die Sprünge, die die traditionellen Tänze zumindest ein wenig kannten.„Ich war aber nicht irgendein junges Ding, sondern die Tochter meines Vaters Wolfgang Mayer“, erklärt Katharina, „er war der einzige bezahlte Volksmusikforscher und -pfleger im gesamten bayerischsprachigen Raum und betrieb am Institut für Volkskunde an der Akademie der Wissenschaften über viele Jahrzehnte Feldforschung. In den einschlägigen Kreisen ist er eine bekannte Größe.“

Schrittfolgen, Drehungen und Figuren

Mit diesem familiären Background und einem außergewöhnlichen Talent für Takt und Tanz beseelt teilte sich Katharina zwei Jahre lang mit Alttanzmeister Poneder die Aufgabe, den Besuchern der größten Freiluft-Tanzveranstaltung Münchens eingängige Schrittfolgen, Drehungen und Figuren zu zeigen, bis die Landler, Polkas, Dreher und Walzer alle saßen. Willi erklärte, sie tanzte vor. Denn so konnten auch die Zugereisten, die Urlauber und alle, die noch nie etwas von Krebspolka, Kikeriki oder D’schö Marie gehört hatten, mitmachen.

„Ganz anders als es manchmal den Eindruck erweckt, haben die bayerischen Volkstänze nämlich überhaupt nichts Ausschließendes an sich“, betont Katharina und lässt die Kohleaugen funkeln. „Gelebte Volkskultur, wie ich sie betreibe, hat nichts mit der Aufführungskultur der Trachtenvereine zu tun, die den Leuten eine Show liefern.“ Goaßlschnalzen, Schuhplatteln seien ja eher als Touristenattraktionen entstanden. „Bei mir geht’s aber ums Tanzen zum Mitmachen. Die Partnertänze sind so einfach, dass man keine besonderen Fähigkeiten mitbringen muss. Ob’s die Oma mit müden Knochen ist, die sich zum Takt wiegen kann, oder der mit dem hinkerten Haxn. Alle Menschen können tanzen; und wenn dann alle miteinander klatschen, stampfen, gehen und drehen, dann hat das etwas unglaublich Verbindendes, Einschließendes“, schwärmt Katharina, die ihre Tanz-Lust als Uni-Dozentin, Lehrbeauftragte des Kulturreferats München, aber auch auf öffentlichen und privaten Veranstaltungen sowie in Seminaren und Kursen weitergibt.

Tanzmeisterin Katharina Mayer: „Eine unglaublich gute Gastgeberin“

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Gern auch an das junge Hochzeitspaar, das den klassischen Wiener Walzer lieber gegen einen heimischen Tanz eintauschen mag. Als damals nach nur zwei gemeinsamen Kocherlball-Jahren Willi Poneder, der alte Tanzmeister, starb, übernahm Katharina den Stab – und den Titel. „Das war ein Ritterschlag“, erklärt Mayer, die noch immer jedes Jahr im Juli in aller Herrgottsfrüh die Massen unterm Chinesischen Turm bewegt. „Irgendwann habe ich festgestellt, dass ich eine unheimlich gute Gastgeberin bin“, sagt sie ohne falsche Scham. Denn auch wenn jeder Mensch tanzen könne, so brauche er doch eine*n talentierten Vermittler*in.

Wahrscheinlich hat die gebürtige Münchnerin das didaktische Geschick vom Vater, dem charmanten Menschenfreund geerbt, der 50 Jahre lang zu Fuß über die bayerischen Dörfer marschiert ist, um sich die alten Tänze und Weisen zeigen zu lassen. Katharina sagt es so: „Ich nehme den Leuten die Scheu, denn ich habe sie selber nicht.“ Zu singen, zu musizieren, zu tanzen, das sei in ihrer Familie nichts Besonderes gewesen. Das habe jeder gekonnt, vor allem die Mutter aus Niederbayern, die dem Vater, eigentlich ein Boogie-Woogie- und Rock’n Roll-Tänzer, die ersten bayerischen Volkstänze beigebracht hat. Gemeinsam gab das Paar ihre Begeisterung für die heimische Tanz-Musik-Kultur an den Nachwuchs weiter, so wie Katharina heute an ihre Tochter, die neunjährige Marlene, die ganz frei im Naturidyll des Isarwinkels aufwächst.

„Ich dachte, ich bin einfach zu dumm für diese Welt“

Dieses Gefühl jedoch, nichts Besonderes zu können, war in Katharinas eigener Kindheit und Jugend überwältigend groß, ein enormer Klotz am Tanzbein. „Ich dachte, ich bin einfach zu dumm für diese Welt“, blickt die 45-Jährige auf eine Schulzeit zurück, in der sie stets nur mit Ach und Krach versetzt wurde. Die Sorge um die Mutter, die irgendwann schwer erkrankte, war einfach zu groß, um sich aufs Lernen zu konzentrieren. Doch war es dann die Mutter, die an sie glaubte und darauf bestand, dass sie die Ausbildung zur Tanz- und Gymnastiklehrerin absolvierte. „Da habe ich zum ersten Mal erlebt, dass ich etwas kann.“ Wieder blitzen die tiefbraunen Augen. So ging’s dann auch im Studium zur Sportlehrerin im freien Beruf, bei der Ausbildung zur Skilehrerin, zur Diplom-Tanzpädagogin oder während ihrer Karriere im leistungssportlichen Gesellschaftstanz auf Weltniveau. „Immer hat jemand meine Fähigkeiten erkannt und gesagt, ‚du kannst das.‘ Darauf habe ich dann vertraut und konnte es tatsächlich“, sagt die Sportlehrerin, die 18 Jahre an einer Lenggrieser Schule tätig war. Was ein ziemlicher Euphemismus dafür ist, jede Ausbildung mit der Bestnote abgeschlossen zu haben.

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Körperliche Begegnung, Liebe und Begierde statt Kirchenreglement

Wie aber erklärt sich der Bewegermensch Katharina das neu erwachte Interesse an der bayerischen Volkskultur? Denn es ist ja so, dass nicht nur der große Kocherlball in der Landeshauptstadt wieder viel mehr Menschen anlockt. Auch auf den Volksfesten in Städten und Dörfern wird wieder mehr getanzt, überall finden Tanzböden statt. Wobei sich der Rastafari ebenso wie die Hausfrau, der Handwerker ebenso wie die Akademikerin an den Tanzfiguren versucht. „Es mag daran liegen, dass volkskultureller Tanz, der ja viel älter ist als die in Bayern vorherrschende katholische Kirchentradition, sich wieder von ihr abkoppelt“, wagt Katharina einen Erklärungsversuch. Der Kirchenkalender habe zwar mit seinen hohen Festen und Feiertagen wie Kirchweih, Kathrein oder Fronleichnam dafür gesorgt, dass das Volk tanzte und die Tradition überdauerte.

„Doch hat die Kirche den bodenständigen, urwüchsigen Volkstanz auch sehr stark reguliert, reglementiert. Alles, was er verkörpert, das Wachstum, die Fruchtbarkeit, die körperliche Begegnung, Liebe und Begierde, sollten unterbunden werden. Also alles, was die Menschen, wenn wir ehrlich sind, tagtäglich wirklich beschäftigt“, sagt sie verschmitzt. So habe die Kirche etwa den Wechseltanz eingeführt, damit kein Paar zu lange miteinander tanze. „Heute mögen ihn die Leute gerade deswegen, weil man mit möglichst vielen Partnern tanzen und Spaß haben kann.“

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Eines weiß Katharina ganz gewiss: „Tradition lebt nur weiter, wenn sie sich bewegt. Aber wenn man den Volkstanz in strengen Formen konserviert, dann erstarrt und stirbt er, denn das will die Jugend nicht haben.“ Improvisation, im Flusssein, sich als Menschenwesen in Gemeinschaft aller beseelten Wesen weitertreiben lassen, das sind Melodie und Rhythmus, die Katharina Mayers ganzes Leben bestimmen. Ein sehr eigener Flow, der sie nach zwanzig Jahren als Sportlehrerin kündigen ließ, obwohl sie die Arbeit mit den Kindern geliebt hat. Mitten in der Pandemie, ohne Plan B. Als alleinerziehende Mutter ohne großes finanzielles Polster. „Ich konnte unser starres, veraltetes, menschenunwürdiges Schulsystem einfach nicht mehr mittragen. Da habe ich mich als Coachin für Potenzialentfaltung, Dozentin und Tanzmeisterin selbstständig gemacht.“ Dem Bauchgefühl, der inneren Begeisterung zu folgen – das hat funktioniert. Wie immer, wenn Katharina barfuß läuft.

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