Chile. Der Norden Patagoniens. himmeblau-Fotograf Andreas Jacob und sein Kumpel Faban Grafetstetter erkunden Südamerikas sagenhafte Sackgasse.

Fotos: Andreas Jacob

Am Ende, ganz am Ende erst, ergeben sich Geist und Körper und die Erschöpfung bricht sich Bahn. Fabian Grafetstetter kann sich kaum mehr auf den Beinen halten. Jeder Muskel bebt, Hunger und Durst scheinen ihn innerlich aufzuzehren und die von Staub zugekleisterten Lungen lechzen nach Luft. Später, im Holzbett einer spartanischen Cabana kauernd, wird er zwei Schlafsäcke benötigen, um den Schüttelfrost halbwegs im Zaun zu halten. Jetzt, fix und fertig vor dem großen Holzschild stehend, das Besucher in Villa O‘Higgins begrüßt, bettet er den Kopf auf den Sattel seines Bikes und vergießt ein paar Tränen. Tränen, die nach der süß-salzigen Mischung aus Stolz, Dankbarkeit und Schmerz schmecken.

Fabians Freund und Begleiter, der himmeblau-Fotograf Andreas Jacob, hat die Szene auf einem Foto festgehalten. Schließlich war das der Deal: Er, der Fotograf, würde auf motorisierte Weise die Vorhut, die Nachhut und den Chronisten geben. Während sich Fabian per Muskelkraft über die 1.240 Kilometer lange Strecke der Carretera Austral quält, die vielleicht längste Sackgasse der Welt. Sechs Tage von früh bis spät im Sattel galt es zu bewältigen. Von Nord nach Süd durch den untersten Hemdzipfel Chiles. Von Puerto Montt, einer malerischen Hafenstadt im Norden Patagoniens, durch das Herz des patagonischen Andengebirges, bis hier unten, nach Villa O‘Higgins, wo die Zivilisation dann wirklich endet.

<

Um diesen bis dahin vom Rest des Landes weit abgeschlagenen, nur über den Luft- oder Seeweg beziehungsweise von Argentinien her erreichbaren Süden Chiles besser anzubinden, begann 1976 (noch unter Diktator Pinochet) der Bau jener Straße. Ein Mammutprojekt, das bis heute keinen Abschluss gefunden hat. Sehr zur Freude von Abenteurer*innen aus aller Welt, die den spektakulären Weg mit Auto oder Motorrad, wandernd, trampend oder eben auf dem Bike auf sich nehmen. Sie alle genießen das, was einen „vernünftigen“ Straßenbau verhindert: Urwüchsige, geradezu widerspenstige Natur, üppige (Regen-)Wälder, in die Küste gegrabene Fjorde und imposante Berglandschaften mitsamt majestätischen Gletschern. Asphaltiert ist vielleicht ein Drittel der Strecke. Der Rest besteht größtenteils aus rudimentären Schotterstreifen. „Tief, kräfteraubend, staubig“, fasst es Fabian zusammen, dessen Waden mit Verpflegung (z. B. Kaffee von Merchant & Friends), Fahrrad der Marke Breezer Bikes und Ausstattung von SQlab fast 30 Kilogramm zu stemmen hatten. Wasser, Nahrung, Kleidung, Schlafsack – was sich halt so zusammenläppert, wenn man darauf vorbereitet sein will, zur Not zu biwakieren.

Carretera Austral führt durch atemberaubende Natur

Warum tut man sich das an? Erstens, sagt Fabian, der 38-jährige Sportwissenschaftler, der passenderweise im Bereich der Ausdauerleistungsdiagnostik arbeitet, mache Radfahren den Kopf frei; zweitens, ergänzt der Rosenheimer Fotograf Andreas, leiden beide Freunde an einer chronischen Darmkrankheit und wollten sich durchaus auch etwas beweisen; drittens – ach, um drittens zu verstehen, müsse man doch nur einen Blick auf die Fotos werfen, schwärmen sie unisono.

Die Ruta 7, wie die legendäre Route offiziell heißt, führt durch oder vorbei an etlichen atemberaubenden Nationalparks und Naturschutzgebieten. Da triffst du stundenlang keine Menschenseele, dafür stolziert plötzlich ein Guanako über die Straße, quasi die Stammform des domestizierten Lamas. Und dann diese Natur! Zu Anfangs, gibt Fabian zu, habe er sich noch gedacht, die Strecke könne ebenso gut zwischen Ruhpolding und Reit im Winkl liegen. Eine Fauna wie im Chiemgau.

Lieber zu Fuß unterwegs?: Tipps zum Weitwandern

Bis sich schließlich in der Ferne der erste Gletscher ins Blickfeld schiebt. Der Queulat-Gletscher mit seiner gleißend blauen Farbe scheint sich kopfüber in einen smaragdgrünen See zu stürzen. Überhaupt: Die Umgebung verändert sich laufend. Eben düst Fabian noch eine von Wiesen und Nadelbäumen gesäumte, ausnahmsweise geteerte Serpentine hinunter, auf einmal ragen links und rechts pechschwarze Felswände empor. Die Gasse entlässt ihn in ein Nebelmeer, aus dem knotige, urwüchsige Regenwaldbäume und bizarre Felsformationen ragen. Immer wieder blitzen Stromschnellen aus den Tälern hervor, „unfassbare Wassermengen“, staunt der Fotograf. Zum Glück muss sich Andreas in seinem Gefährt nicht ganz so stark aufs Vorwärtskommen konzentrieren und kann die vielen, oftmals versteckten Wunder auf Bilder bannen.

<

Ein Highlight der Carretera Austral: die Marble Caves

Über 2.000 Höhenmeter quält sich Fabian täglich bergauf und bergab, auf Distanzen von bis zu 170 Kilometern. Die Etappen sind sportlich durchgetaktet, die zwei Freunde sind nicht zum Seightseeing da. An manchen Tagen zwingt sie die schier unfassbare Schönheit der Natur jedoch zum Innehalten. Der Lago General Carrera ist so ein Ort. Chiles größter See bietet mit seiner azurblauen Farbe und den ringsum Spalier stehenden, schneebedeckten Bergen eine spektakuläre Kulisse – in der sich mit den Marble Caves ein kleines Naturwunder versteckt. Jene Höhlen sehen aus, als wären sie aus Marmor gegossen. Ein Anblick, der die ganze Mühsal, den Schweiß und die schmerzgeplagten Muskeln für ein paar Momente in den Hintergrund drängt. Dann geht es auch schon weiter. Villa O‘Higgins wartet. Ein Bett. Eine Dusche. Schüttelfrost und Tränen.

Transparenzhinweis: Im Text werden einige Marken genannt. Die beiden Protagonisten sind von diesen Marken ausgestattet worden, das himmeblau Magazin hat einen kleinen Zuschuss für die Veröffentlichung erhalten.