Seit über 300 Jahren befindet sich der Ramsauerhof in Familienbesitz. Das Tagwerk bestand aus Flächenbewirtschaftung, Naturschutzmaßnahmen und Milchviehhaltung – bis Christine und Sepp Bogenhauser beschlossen, ihre Kühe nicht mehr ausbeuten zu wollen. 

Ein Bankerl steht auf dem rundlichen Plateau, das den Ramsauerhof um etwa 20 Höhenmeter überragt. Den steilen, licht bewaldeten Hang führt ein gewundener Pfad hinauf. Ein kurzer Spaziergang, wenn man nicht gerade eine Knie-Operation hinter sich hat, so wie der Bogenhauser Sepp, der hiesige Hofherr, der sich vor kurzem – endlich, nachdem er es monatelang vor sich hergeschoben hatte – das arthritische Knie hat reparieren lassen. Die Knochen eines 64-jährigen können schon mal knarzen und zwi cken, zumal, wenn er die meiste Zeit des Lebens ringsherum auf den Wiesen und in den Wäldern, drin im Kuhstall oder unten, im Tal, auf den zum Hof gehörenden Streuobstwiesen geschuftet hat. Aber schön langsam erholt sich der Hax wieder – und der Sepp und seine Frau, die Christine, haben es ja ohnehin nicht eilig. Sie müssen nicht mehr pünktlich frühmorgens um 6 in den Stall, um die Kühe zu melken, und abends gleich noch einmal. Die Zeiten sind zum Glück vorbei. Die beiden können, wann immer es ihnen beliebt, in aller Ruhe dieses Hügelchen hinaufstapfen, die angenehm kühle Brise genießen und die Blicke schweifen lassen: gen Westen, wo der Wendelstein mit seiner Antenne winkt; gen Süden, wo das Kaisergebirge thront; oder hinunter nach Nussdorf am Inn, zu dem die Einöde Ramsau gehört. 

Fotos: Sarah Broßart

Diese famose Aussicht scheinen schon die mittelalterlichen Herren von Nussdorf geschätzt zu haben, sonst hätten sie wohl keine Burg auf die Anhöhe gepflanzt. Erstmals urkundlich erwähnt im 12. Jahrhundert, waren laut Chroniken ab dem 14. Jahrhundert zunächst die Ritter von Klammenstein die Burgherren, dann die Herren von Kammer, dann ging die kleine Festung in Kirchenbesitz über und wurde schließlich, während der Belagerung Kufsteins im Rahmen des Landshuter Erbfolgekrieges, im Jahre 1504 zerstört. Heute sieht man obertägig nicht einmal mehr Reste der Ruine. Vom Erdboden verschluckt wurde sie aber nicht. Bauersleut‘ sind praktische Leut‘: Der Vater, erinnert sich Sepp, habe die letzten Steine um 1950 herum aufgeklaubt und im Hof verbaut. Ein Stall mit ritterlichem Einschlag, wenn das die Kühe wüssten…

Auch ohne jenen architektonischen Ritterschlag kann man den Ramsauerhof als einen geschichtsträchtigen Ort bezeichnen. Seit rund 300 Jahren bewirtschaftet die Familie diesen Flecken Erde, seit der Jahrtausendwende – als einer der ersten Betriebe im Umkreis – als Demeter-Hof. Mit ihrer Milch belieferten sie eine große, regionale Molkerei; bis die Bogenhausers das System der Milchwirtschaft nicht mehr ertrugen, dieses Spiel, bei dem die Verlierer von vornherein feststehen: die Kühe. „Es hat sich einfach nicht mehr richtig angefühlt“, sagt Christine. Die 62-jährige trägt ein Stirnband mit floralem Druck, die graumelierten Haare zusammengebunden, auf der Nase eine runde Brille. In Sepps Gesicht sitzt ein gezwirbelter Schnurrbart, die blauen Augen blitzen frech unter dem Schatten seines Filzhuts hervor. Liebevoll streichelt er die Schnauze von Adele. Die geht zwar schon auf den zehnten Geburtag zu, ist aber immer noch so verschmust wie ein Kalb. Keine fünf Meter konnten sich Bogenhausers in Richtung ihres Aussichtsbankerls oben auf der Hügelkuppe bewegen, da trotteten schon die ersten ihrer sieben Kühe herbei. Die eine, um sich liebkosten zu lassen, die andere – Sissi heißt sie – um Christines Ärmel abzuschlecken (offenbar eine feuchtfröhliche Angewohnheit). Der Rest guckt nur neugierig herüber und fährt ansonsten unbeeindruckt fort, genüsslich die saftige Wiese unter den Birnen-, Zwetschgen und Kastanienbäumen abzugrasen. Nein, Christine und Sepp kann man wahrlich keine Herzlosigkeit vorwerfen! Sie sind buchstäblich vernarrt in ihre Rindsviecher, waren sie schon immer – und genau das war das Dilemma; der Grund für die Kehrtwende.

Du ziehst Lebewesen groß, gibst ihnen Namen, kümmerst dich tagtäglich aufopferungsvoll um sie, die Kälbchen schließt du sofort ins Herz, auch deine Kinder lieben die sanftmütigen, kuschelbedürftigen Tiere – doch du musst sie im Grunde fast wie Maschinen behandeln. Leistung verlangen, immer wieder aussortieren, Nachwuchs „entsorgen“, so grausam das klingen mag.  Du kannst ja nicht mehr Vieh halten, als Platz ist im Stall. Und das Futter, der Tierarzt, das kostet ja alles auch Geld. Männliche Kälbchen kannst du gleich gar nicht gebrauchen, aus wirtschaftlicher Sicht, die geben später, als erwachsenes Rind, ja keine Milch; also müssen sie weg. „Dann gibst du sie her und hast im Hinterkopf immer, was mit ihnen passiert. Das war für uns einfach nicht mehr stimmig“, erinnert sich Christine. Bogenhausers haben ihren relativ kleinen Milchviehbetrieb schon immer als Nebenerwerb geführt. Der Ertrag von damals acht Kühen konnte die Familie nicht ernähren. Darum arbeitete der Sepp früher als Schreiner, später als ziviler Angestellter in der Kaserne, drunten in Brannenburg. Und ihren paar Rindern, denen ging es vergleichsweise gut. Doch auch bei aller Liebe konnte sich das Ehepaar der einen oder anderen „Gepflogenheit“ aus der Milchwirtschaft natürlich nicht entziehen, wie auch. Es geht nun mal nicht ohne diese – wie soll man das nennen – aufoktroyierte Grausamkeit der Branche?    

Die Tierschutzorganisation Peta beschreibt die Realität hinter der Milch, die in Supermarktregalen steht, als das Ergebnis eines erschütternden Kreislaufs aus Tod und Folter. Was unsereins gerne ausblendet, wenn er zum Tetra-Pak greift: Um für einen beständigen Milchertrag zu sorgen, werden Kühe wie am Fließband wieder und wieder künstlich geschwängert. Denn wie auch beim Menschen gibt natürlich nur Milch, wer vorher ein Kind geboren hat. Milch, die eigentlich für die Kälber gedacht wäre. Doch Mutter und Kind werden in der Regel direkt nach der Geburt getrennt (auch für Kühe ein schmerzlicher Verlust, wie jeder bestätigen kann, der schon einmal eine Mutterkuh verzweifelt nach ihrem Kind hat rufen hören), damit ja jeder Tropfen in Menschenmund fließt. Was zurückbleibt, sind traumatisierte Mutterkühe und – zumindest bei den schwarzen Schafen der Branche – isoliert in Käfigen aufgezogene Kälber. Die werden – falls weiblich – entweder möglichst schnell künstlich besamt oder gemästet und verscherbelt, als todgeweihtes „Nebenprodukt“ der Milchwirtschaft. 

Das darf eine weibliche Kuh vom Leben erwarten: ein paar kümmerliche und kräftezehrende Jahre in denselben Zwängen wie die ihrer Mutter, also wieder und wieder künstliche Besamung, Trennung, Fließbandproduktion. Hat der Betrieb keinen Platz, landen selbst schwangere Kühe laut Peta nicht selten im Schlachthof, oft irgendwo im Ausland, nach einem qualvollen Transport – wo ihre ungeborenen Babys mit ihnen sterben. Den männlichen Kälbern geht es nicht besser. Wirtschaftlich meist wertlos, werden viele direkt nach der Geburt getötet.  

Der Preis für diese Form der industriellen Landwirtschaft ist hoch. Nicht in Cent und Euro versteht sich, denn seien wir ehrlich: Sonderlich viel wert ist uns der Liter Milch nicht; dafür büßt die Umwelt, büßen die Tiere, und empathische Landwirt:innen wie Christine und Sepp Bogenhauser bezahlen mit Seelenschmerz, Trauer und einem ethischen Zwiespalt, der vor dem eigenen Gewissen kaum zu rechtfertigen ist – und das, obwohl die beiden wahrlich versuchten, es ihren Kühen so angenehm wie möglich zu machen. Irgendwann hielten sie es einfach nicht mehr aus, Teil dieses Systems zu sein. 2023 entschieden sie sich, diesen Kreislauf zu durchbrechen – ein stiller, aber kraftvoller Akt des Protests und des Mitgefühls.

So eine Abkehr aus einem kranken System gelingt nicht über Nacht. Monatelang hatten sich die Bogenhausers gefragt, ob es einen anderen Weg gibt und wie der aussehen könnte. Einen Weg, der den Tieren ein Leben in Würde erlaubt, ein Leben, das ihren natürlichen Bedürfnissen entspricht. Ohne Ausbeutung. Ohne Nutzen-Müssen. Doch wie sollte der aussehen? Vor allem: wie sich finanzieren? Eine Frage, die sich zwar noch nicht überbordend viele, aber doch mehr und mehr Fleisch- und Milchproduzent:innen stellen. Ihnen steht auf Wunsch eine Organisation namens TransFARMation Deutschland zur Seite. Der Verein begleitet bäuerliche Betriebe auf ihrem Weg zu einer Landwirtschaft ohne Tierausbeutung – mit fachlicher Beratung, Ideen für neue Monetarisierungsmodelle und viel Fingerspitzengefühl.   

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Die Vision dahinter: Eine Landwirtschaft zu entwickeln, die ohne Tierausbeutung auskommt und trotzdem funktioniert. Denn den enormen Stellenwert der Landwirte und Landwirtinnen stellt auch das Team um die Vorstände Timo Geuss und Miriam Enders natürlich nicht in Frage! Auch für TransFARMation ist Landwirtschaft DIE grundlegende wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen. Sie ernährt uns, sie spielt die entscheidende Rolle  in der Landschaftspflege. Doch der hohe Konsum tierischer Produkte belastet nicht nur die Tiere, sondern auch Umwelt und Klima. Das Absurde am Status quo: Rund 60 Prozent der deutschen Agrarflächen werden für den Anbau von Tierfutter verwendet – mit allen bekannten Nebenwirkungen wie Artensterben, Bodenverlust und einem enormem CO₂-Ausstoß. Warum also bauen wir nicht mehr Lebensmittel für Menschen an, statt damit Tiere zu füttern? Auf diese Weise würden die Ressourcen effizienter genutzt – und es würden sich neue Perspektiven für Mensch, Tier und Natur auftun; es würde wieder eine Balance entstehen. 

Die Zukunft der Landwirtschaft, wie TransFARMation sie sich erträumt, soll kein romantisierender Rückschritt in vergangene Zeiten sein, kein Sägen am eigenen Ast, sondern ein mutiger Schritt nach vorn. Einer, der aus einem Problem eine Lösung macht. Die Landwirtschaft könnte plötzlich zum Game Changer werden. Auf diese Weise trüge sie nämlich zum Erhalt der Biodiversität bei, würde das Klima und ALLE Lebewesen schützen – Mensch und Tier. Das wäre die Chance, Ökologie, Ökonomie und Ethik in Einklang zu bringen. Klingt fast zu schön, um wahr sein zu können. Wie gut hält das Konzept dem Realitäts-Check stand? 

Das wird die Zeit zeigen. Unter ihren Prämissen hat TransFARMation Deutschand jedenfalls schon mehrere bayerische Höfe beim Ausstieg aus der Nutztierhaltung begleitet. Im Allgäu zum Beispiel den Lebenshof KuhKlang, wo Reinhold Baumann den elterlichen, auf Milchwirtschaft spezialisierten Betrieb erbte und bald einsehen musste, „dass der gute Verdienst durch Milchgeld auf dem Leid der Tiere aufgebaut war.“ Er hat den Hof in eine Begegnungsstätte für Mensch und Tier umgestaltet, wo derzeit 42 eigene plus 18 Pflegerinder, Hund Toto aus dem Tierheim, die Hofkatzen Lorenza und Miezi sowie die beiden Esel Camilo und Paco leben. Ähnlich erging es Helen und Stefanie Mühlbacher, die den früheren Moiernhof in der Gemeinde Petting im Landkreis Traunstein in den Lebenshof Kuhtopia verwandelt haben, einen Ort der Bildung und Begegnung. Auf den Spuren dieser Vorbilder wandeln nun auch Christine und Sepp Bogenhauser, wenngleich sie ihr Projekt etwas stiller, quasi eine Nummer kleiner angehen.

„Kuhglück Inntal“ nennen sie ihren Ramsauerhof jetzt. Denn das war und ist ihr vornehmliches Ziel: ihren Kühen ein glückliches Leben zu ermöglichen. Eigentlich brauchte es nicht viel außer Entschlusskraft, um diesen Schritt zu vollziehen. Ansonsten: Aus dem alten Anbindestall haben sie einen Freilaufstall gemacht. Die Kuh-Gang kann nun selbst entscheiden, ob sie sich in ihre vier Wände zurückziehen oder draußen am Laufhof oder auf der Weide herumtreiben will. Auch eine Massagerolle gehört mittlerweile zur Ausstattung – eine Spende von Freund:innen des Hofes, der übrigens nach wie vor nach den Richtlinien für ökologischen Landbau bewirtschaftet wird. Die Landschaftspflege hört ja nicht auf, bloß weil die Kühe nicht mehr zur Arbeit verdonnert werden. 

Charakterkühe, allesamt

Apropos Kühe: Wer die sieben Damen besucht, sieht auf den ersten Blick, wie sehr denen ihr „Rentnerinnendasein“ taugt. Sabine, die älteste, hat bereits sechs Kälbchen geboren. Jetzt darf sie einfach nur noch Kuh sein, grasen, schnauben, in die Sonne blinzeln. Sonja ist zwar die Kleinste, setzt sich aber schon durch, wenn es sein muss. Sissi ist die Neugierige – wenn Christine und Sepp ihre Runden drehen, stapft sie gerne hinterher, um nur ja über sämtliche Aktivitäten informiert zu sein. Adele liebt Streicheleinheiten. Zutraulich nähert sie sich Gästen, senkt den Kopf und lässt sich die Schnauze kraulen. Man kann es nur empfehlen: Mal da hochzufahren nach Ramsau (natürlich nach vorheriger Anmeldung) und in Kontakt zu treten mit diesen offenbar von Grund auf zufriedenen Tieren. Ihnen in die Augen schauen. Sie berühren, beobachten – und unweigerlich feststellen, dass jede Kuh einen eigenen Charakter hat. Ein denkendes, fühlendes Lebewesen ist. Verdammt nochmal ein Recht haben sollte auf ein unbeschwertes Leben. 

Für ihr Leben, sagen Christine und Sepp, sei die Umstellung auf jeden Fall eine Bereicherung. Auch wenn sie zunächst einen gewissen finanziellen Verzicht bedeutet. Dass der Hof mitsamt den sieben Kühen weiterbestehen kann, ist langfristig nur möglich, wenn ein paar Menschen mitziehen. Menschen, die spenden, oder Patenschaften und auf diese Weise einen Teil der Verantwortung übernehmen. Für ein bisschen mehr Tierwohl in dieser Welt. Für eine Landwirtschaft, die andere Prioritäten setzt.